Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Ein erstaunlicher Vorgang: Zwei süddeutsche Kammerabgeordnete stellen 
in ihren Ländern Pläne für eine allgemeine deutsche nationale Vertretung 
auf, berufen noch vier Dutzend Persönlichkeiten zusammen, sie verstän- 
digen sich untereinander, verständigen auch die Bundesregierungen und die 
Fürsten. Sie meinen, es sei wohl am zweckmäßigsten, den König von Preußen 
an die Spitze zu setzen, schreiben Wahlen aus und lassen sie vollziehen. Die 
Bundesregierungen sagen nicht nein, und wenige Wochen später sitzen 
566 Abgeordnete in der Paulskirche zu Frankfurt am Main, bereit und ge- 
willt, das Deutsche Reich neu zu schaffen, aus dem deutschen Volksmassiv 
heraus, nicht von einer Spitze aus Deutschland umzuformen:: wenn möglich 
auf Kosten der Rechte und der Macht der Fürsten und deren Staaten. 
Das stand einzig in der Geschichte Europas: eine idealistische Politik oder 
politische Idealistik, die — jedenfalls in ihrem Entstehen — einesrührenden 
Elements nicht entbehrt. Im ganzen genommen hatte man eine wirkliche, 
freilich stark jüdisch durchsetzte Volksbewegung vor sich. Da die Initiative 
von jenen Persönlichkeiten schon vor der Französischen Februarrevo- 
lution genommen wurde, handelte es sich auch nicht um ein irgendwie um- 
stürzlerisches Vorhaben, sondern es war die innerlich geborene, seit über 
einem halben Jahrhundert vorhandene deutsche Bewegung, die nach Ge- 
staltung drängte. Jenes rührende Element lag darin, daß man glaubte, die 
große Umformung durch eine Versammlung bewerkstelligen zu können, die 
zu einem großen Teil aus hervorragenden unpolitischen Geistern Deutsch- 
lands bestand, zu erheblichem Teil aus Persönlichkeiten von europäischem 
Ruf, darunter in erster Linie Historiker, Juristen, Dichter, außerdem die be- 
rühmten Vertreter des deutschen Nationalgedankens in der vorhergegan- 
genen Generation, an der Spitze der alte i.rnst Moritz Arndt. 
* 
Der Zug der Abgeordneten in die Paulskirche wurde mit Feierlichkeit, 
Salutschüssen und Glockenläuten begleitet. Überall in Deutschland, wo der 
nationale deutsche Gedanke Widerhall gefunden hatte, herrschte ungeheure 
wortreiche und sangreiche Begeisterung. Überall wurde der Vers gesungen: 
„Noch ist Polen nicht verloren 
Und Italien erwacht, 
Schleswig-Holstein, neu geboren, 
Wird zur Republik gemacht. 
Denn ein Frühling ist im Lande, 
Wie die Welt noch keinen sah, 
Und es springen alle Bande, 
Denn die Freiheit ist nun da.‘ 
(„Deutsche Geschichte‘‘, Prof. Eduard Heyck)
	        
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