Metadata: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
102 · gnnere Politik. 1. Buch. 
  
entgegenführen und die deutsche Landwirtschaft ihrem Schicksal überlassen. Graf 
Caprivi und seine Mitarbeiter glaubten diesen Weg wählen zu sollen. Oder aber, es 
konnte der Landwirtschaft durch die Gesetzgebung ein Ausgleich für die Ungunst der 
Zeitverhältnisse geschaffen, der Umwandlung Deutschlands in einen einseitigen IZn- 
dustriestaat entgegengewirkt, und die Landwirtschaft kräftig und lebensfähig neben 
einer starken Industrie erhalten werden. Diesen Weg bin ich mit vollem Bewußtsein 
und aus innerster UÜberzeugung mit den Zolltarifgesetzen von 1902 gegangen, denn ich 
war davon durchdrungen, daß uns eine starke Landwirtschaft wirtschaftlich und vor 
allem national und sozial notwendig ist, gerade weil die Industrialisierung Deutsch- 
lands in ständigem Fortschreiten begriffen ist. Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß 
man im persönlichen Verkehr und aus dem Leben mehr lernt als aus noch so profunden 
Kompendien. Ich neige zu der Ansicht, daß man am meisten lernt, wenn man sich mit 
Menschen unterhält, die anderer Ansicht sind und ihre Ansicht zu vertreten wissen. Du 
choc des opinions jaillit la vérité. Als ich mich vor Zahren eimmal mit einem linksliberalen 
Parlamentarier über wirtschaftliche Probleme unterhielt, fragte ich ihn schließlich: 
„Und wenn es einmal hart auf hart käme, ein schwerer Krieg oder eine ernste Re- 
volution, glauben Sie, daß bei aller Begabung und Leistungsfähigkeit und selbstver- 
ständlich bei vollem Anspruch auf gleiche Behandlung Handel und Industrie, unsere 
trefflichen neuen Schichten, uns in der Stunde der Gefahr die Kräfte ganz ersetzen 
können, die Preußen groß gemacht haben?“ MWein politischer Antagonist und persön- 
licher guter Freund überlegte kurze Zeit, dann meinte er: „Sie haben recht, erhalten 
Sie uns die Landwirtschaft und selbst den Junker.“ 
Wir verdanken der Industrie und dem Handel sehr viel. Sie haben uns zu einem 
wohlhabenden Lande gemacht und ermöglichen es uns in erster Linie, unsere gewaltige 
Rüstung zu Lande und zur See finanziell zu tragen. Ein hervorragender Mann des 
deutschen wirtschaftlichen Lebens, Fürst Guido Henckel, pflegte zu sagen, die Landwirt- 
schaft müsse uns unsere Soldaten stellen, die Industrie sie bezahlen. Industrie und Handel, 
diese beiden modernen Erwerbszweige ernähren und beschäftigen den großen Bevölke- 
rungszuwachs, der uns früher durch Auswanderung verloren ging. Auf den Schultern 
von Industrie und Handel sind wir zur Weltmacht emporgestiegen. Aber die Gewinne 
nach der einen Richtung unserer nationalen Entwicklung sind doch vielfach erkauft worden 
mit Verlusten nach der anderen. Um den wahren nationalen Gewinn der deutschen In- 
dustrialisierung messen zu können, müssen die durch sie verursachten Verluste und Schä- 
den mitaufgerechnet werden. Da zeigt sich bald, daß der Gang des modernen wirtschaft- 
lichen Lebens uns noch andere und schwerere Pflichten zuweist als die Aufgabe, die Ent- 
faltung von Industrie und Handel nur immer weiter nach besten Kräften zu forcieren. 
Die moderne Entwicklung birgt ihre großen Gefahren für das nationale Leben, und nur, 
wenn es gelang, diese zu beheben, konnten wir mit gutem Gewissen der neuen Errungen- 
schaften froh werden. Es galt zu verfahren wie ein kluger Arzt, der dafür Sorge trägt, 
den Organismus in allen seinen Teilen und Funktionen gesund und kräftig zu erhalten 
und der rechtzeitig eingreift, wenn er sieht, daß die überstarke Entwicklung eines einzelnen 
Organs den anderen Organen Kräfte entzieht. Die deutsche Industrie ist tatsächlich 
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