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2) Nach dem allgemeinen deutschen Staatsrechte, welches insoweit den
Grundsätzen des Lehenrechts folgte, schlossen Geisteskrankheit, sowie schwere
körperliche Gebrechen, falls sie schon bei Eintritt des Erbfolgefalles vorhanden
und als unheilbar anzusehen waren, von der Thronfolge aus — eine Rechts-
anschauung, die in der älteren Geschichte des Herzogl. Hauses ein hausgesetz-
liches und zugleich mit den Ständen vereinbartes Anerkenntnis in dem Vertrage
der Herzöge Bernhard und Heinrich vom Jahre 1415 (Zachariae, Deutsches
Staats= und Bundesrecht, Bd. 1, § 70, Anm. 6) gefunden hat und noch in
neuester Zeit aufrecht erhalten ist in den Verhandlungen, die dem Erlaß des
Regentschaftsgesetzes vorangegangen sind. Im Einverständnis mit dem Ver-
treter der Landesregierung hat die Verfassungskommission damals in ihrem
Berichte vom 9. März 1874 — Anl. 225 der Drucksachen des 14. ordent-
lichen Landtages — festgestellt, daß der Verlust des Augenlichtes den König
Georg von Hannover von der Thronfolge ausschließe und daß daher, falls die
jüngere Linie des Gesamthauses zur Erbfolge gelangen sollte, sofort den früheren
Kronprinzen die Reihe treffen werde. Siehe auch S. 84, Anm. 1. Dagegen
ward bei Minderjährigkeit des Thronfolgers, wie im Falle einer nach dem
Eintritt der Herrschaft hervortretenden Regierungsunfähigkeit des Landesherrn
eine Regierungsvormundschaft oder Regentschaft eingesetzt, hinsichtlich deren in
manchen Beziehungen die Grundsätze des römischen Rechtes über Vormund-
schaften in Anwendung gebracht wurden. Die Verfassungsgesetze der deutschen
Staaten lassen in allen Fällen der Regierungsunfähigkeit des Thronberechtigten
eine Regentschaft eintreten. Da namentlich auch diejenige Gruppe der Ver-
fassungsurkunden, welcher die N. L.-O. der Zeit ihrer Entstehung nach angehört
und welcher sie die einzelnen Paragraphen ihres Kapitels I, vielfach sogar
wörtlich entlehnt hat, fast ausnahmslos (Kurhessen, Königreich Sachsen, der
hannoversche Entwurf von 1831, anders allein Sachsen-Altenburg) als einen
Grund für Einsetzung einer Regentschaft neben der Minderjährigkeit des Thron-
folgers jede andere Ursache hinstellt, die den Thronberechtigten an der Ausübung
der Regierung dauernd oder auf längere Zeit „behindert“, so muß es auffallen,
daß in der N. L.-O. ausschließlich des Falles der Minderjährigkeit Erwähnung
geschieht. Ein übersehen liegt hier gewiß nicht vor, doch geben die Kommissions-
und Plenarberatungen des Gesetzes über den Grund der Unterlassung keinen
Aufschluß; gleich den vorangehenden Paragraphen ist auch der — dem zweiten
Entwurf der N. L.-O. erst eingefügte (s. S. 50) — § 16 ohne weiteres
genehmigt. Man wird indessen kaum fehl gehen, wenn man für die Llcke
des Gesetzes die Erklärung in den Verhältnissen sucht, unter denen sich soeben
der Thronwechsel im Herzogtum vollzogen hatte. Die agnatische Anordnung,
laut deren die Regierung wegen der „absoluten Regierungsunfähigkeit“ des
bisherigen rechtmäßigen Herrschers als erledigt betrachtet und endgültig auf
den Herzog Wilhelm übertragen wurde, entsprach ohne Zweifel weit mehr dem
Wohle des Landes, als anerkannten Grundsätzen des Staats= und Fürstenrechtes
und war in der Bundesversammlung zunächst nicht ohne ernstlichen Widerspruch
geblieben. Es leuchtet aber ein, daß angesichts des eingeschlagenen Verfahrens