Full text: Die Reichsverfassungsurkunde vom 16. April 1871.

42 Grundzüge des Verfassungsrechts des deutschen Reichs. 
zu geben. Liegen solche Erläuterungen nicht vor, so können sie, soweit 
den Landesregierungen überhaupt eine Aufgabe oder Verantwortlichkeit 
in Betreff des Vollzugs obliegt, von diesen erlassen werden und es ist 
demgemäß denkbar, daß selbst im Wege der Landesgesetzgebung") die 
Erläuterung eines Reichsgesetzes erfolgt. So lange derartige Erläute- 
rungen nicht von der Reichsgewalt als unzulässig erklärt oder in son- 
stiger Weise ersetzt sind, müssen sie von den Vollzugsbehörden des be- 
tressenden Landes beachtet werden. 
§ 9. 
Reichslianzler und Centralbehörden des Reichs. 
I. Dem vom Kaiser ernannten Reichskanzler ist durch die Ver- 
fassung eine Doppelstellung angewiesen. Er hat einerseits als Vertreter 
des Kaisers den Vorsitz und die Geschäftsleitung sowie die preußischen 
Stimmen“") im Vundesrathe zu führen, und vereinigt andererseits zur 
Zeit in Bezug auf die Reichsregierungsgeschäfte alle diejenigen Funktio- 
nen, welche in constitutionellen Staaten den Staatsministern obliegen?). 
Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers mit Ausnahme der 
rein militärischen, bedürfen demgemäß der Gegenzeichnung des Reichs- 
lich von den Gesetzgebungsfaktoren also in specie dem Bundesrathe und Reichs- 
tage erlassen werden können, die Rede, sondern nur von Interprekationen zum 
Zwecke eines richtigen und einheillichen Vollzugs. Solche Direktiven lönnen den 
Richtern ven den Ministerien nie gegeben werden; anders verhält es sich bei Ver- 
waltungssachen, hinsichtlich deren den Ministerien die Verantworllichkeit und eben- 
deshhalb auch das Oberaussichtsrecht zusteht. Ans dem Umstande, daß der Voll- 
zug einzelner Reichsgesetze und hiemit die Verankwortlichleit für denselben den 
Einzelstaaten zugewiesen ist, ergibt sich auch die fragliche Berechtigung der Landes- 
ministerien. 
*) Das Landesgesetz erscheint hier als eine Ergänzung des Reichsgesetzcs 
und ist demgemäß auch von dem Richler zu beobachten. Festzuhalten ist übrigens 
immer, daß das betreffende Reichsgesetz faklisch Zweifel oder Lücken läßt, dagegen 
heht es keincsfalls an, eine durch Reichsgeselz erschöpfend geregelle Materie in 
den Bereich der Landesgesetzgebung zu ziehen. 
*“) Vergleiche hiezu die Rede des Fürsten v. Bismarck im konstituirenden 
Reichstage von 1867 Sten. Ver. S. 376 u. 377. 
*#½) Ein im Reichstag im Jahr 1869 gestellter Antrag auf Errichtung 
förmlicher verantwortlicher Vundesministerien wurde abgelehnt. Stenogr. Ber. 
Vd. I S. 389 ff.
	        
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