80 Gesetz, betrefsend die Verfassung des deutschen Reichs. Art. 1.
Beantwortung dieser Frage wird zu unterscheiden sein zwischen Gebiets-
abtretungen an andere Bundesstaaten und zwischen Abtretungen an aus-
ländische Mächte. Im ersteren Falle bleibt das Bundesgebiet gegen
Außen unverändert und es wird insbesondere kein Theil desselben der
verfassungsmäßigen Einwirkung der Reichs gewalt entzogen; die Einzelstaa-
ten sind daher, da ihre Territorialgewalt in dieser Hinsicht durch die
Verfassung keiner positiven Beschränkung unterworfen ist, befugt, derar-
tige Veränderungen, insoferne damit nicht ekwa die oben in Nole 2 zum
Eingange der Verfassung besprochene Auflösung des betreffenden Staats-
wesens verbunden ist, nach eigenem Ermessen vorzunehmen, und die Trä-
ger der Reichsgewalt haben lediglich zu erwägen, ob nicht durch die Ge-
bietsabtretung eine solche Veränderung in den Machtverhältnissen des einen
oder anderen Staats eingetreten ist, daß eine im Wege der Verfassungs-
änderung vorzunchmende Modifikalion der bestehenden Stimmverhältulsse
angezeigt erscheint. — Anders gestaltet sich die Sache bei Gebietsabtret-
ungen an auswärtige Staaten. Mit dem Eintritte in den Bund hat
jeder Einzelstaat sein dermaliges Gebiet bestimmten Einwirkungen der
Reichsgewalt unterworfen; eine Gebietsveränderung, wodurch diese Ein-
wirkung alterirt würde, berührt daher nicht blos den Einzelstaat sondern
auch das Reich und ist ebendeßhalb ohne dessen Zustimmung nicht mög-
lich. — Die Formen, unter denen diese letztere zu ertheilen ist, werden
jedoch je nach der Natur der Gebietsabtrelung verschieden sein. Soll
das ganze Gebiet des betreffenden deutschen Staates dem fremden inkor-
porirt werden, so liegt — wie bereits oben in Note 2 zum Eingange
der Verfassung bemerkt — eine nur mit Zustimmung aller Kontrahenten
zulässige Aenderung des Grundvertrages vor; handelt es sich dagegen nur
um Abtretung eines Gebielstheiles, so dürfte die Zustimmung lediglich
den Charakter einer Verfassungsänderung an sich tragen und hienach zu
behandeln sein. Zu bloßen Grenzregulirungen endlich wird eine Zu-
stimmung des Reichs überhaupt nicht erforderlich sein, da das Reich nur in-
soweit ein Recht auf die Terrikorien der Einzelstaaten erlangte, als deren
Grenzen zur Zeit des Vertragsabschlusses khatsächlich und rechtlich fest-
standen, eine Grenzregulirung aber in der Regel nur als nachträgliche
Feststellung der Grenzen erscheint.
Vergrößert ein deutscher Staat sein Gebiet durch auswärtiges Land,
so wird der betreffende Gebietstheil nur im Wege einer Verfassungsän=
derung dem Reichsgebieke inkorporirt werden können.
Kraft des Friedensvertrages von 10./20. Mai 1871 gehören
nunmehr auch Elsaß und Theile Lothringens zum Bundesgebiete. Ver-
gleiche * das Reichsgesetz vom 9. Juni 1871, Reichsgesetblatt
S. 212 u. 213.