Full text: Die Reichsverfassungsurkunde vom 16. April 1871.

82 Gesehz, betreffend die Verfassung des deutschen Neichs. Ark. 2. 
Reichsgesetze, und die Materien, auf *es- 0 die Reichsgesetzgebung er- 
strecken kann; siehe das Nähere oben S. 37 ff. 
Die Frage, ob ein Gegenstand 4% der Verfassung zur Zustän- 
digleit der Reichsgesetzgebung gehörk, ist im einzelnen Falle von den 
Neichsgesetzgebungsfaktoren zu entscheiden. Zweifelhast ist, ob im Bun- 
desrathe hiebei rücksichtlich der Anerkennung der Zuständigkeit 
die Bestimmung in Art. 78 Abs. 1 der Verfassung Maaß zu geben habe 
oder nicht. Nimmt man das Erstere an, so besteht offsenbar eine Gefahr für 
die Weilerenlwickelung des Verfassungsrechls, huldigt man aber der An- 
sicht, daß die Frage, ob in einem gegebenen Falle eine Verfassungsän- 
derung vorliege, durch einfachen Majoritätsbeschluß entschieden werden 
könne, so verliert die in Art. 78 Abs. I enthaltene Garantie wesentlich 
an Werth; vergl. hiezu Hirsemenzel, Verfassung des norddeutschen Bun- 
des S. 9.7) Es versteht sich von selbst, daß, wenn die Reichsgesetzgeb- 
ungsfaktoren sich in einem Falle für die Kompetenz des Neiches enlschie- 
den und ein Gesetz erlassen haben, weder ein Einzelstaat noch ein Voll- 
zugsbeamter berechligt ist, deßhalb weil er die Kompetenz nicht für gege- 
ben erachtet, den Vollzug zu verweigern. 
5. Der Ausdruck „Landesgeseßz“" wird hier im Sinne von Lan- 
desrecht zu nehmen sein, denn auch die Landesverordnungen oder 
das in einem Staate bestehende Gewohnheitsrecht dürfen sich nicht im 
Widerspruche mit einem Reichsgesetze befinden. 
6. Die Regel, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen, 
hat zunächst 
a. die Wirkung, daß alle landesrechtlichen Bestimmungen, welche 
einem Reichsgesetze zuwiderlaufen, ihre Geltung verlieren, und zwar ipso 
jure und ohne daß es einer besonderen Aufhebung in einem Reichs= oder 
Landesgesetze bedürfle; erstreckt sich das Neichsgeselz nur auf einzelne Theile 
einer in einem Landesgesetze geregelten Materie, so bleibt das letztere be- 
züglich der nicht getroffenen Theile in Wirksamkeit, vorausgesetzt, daß 
nicht die Absicht der Reichsgesetzgebung, diese Theile von jeder gesetz- 
lichen Regelung prinzipiell auszuschließen, aus dem Reichsgesetze klar 
hervorgeht. 
Hieraus folgt, daß die Einzelslaaten ihre durch Reichsgesetz zwei- 
fellos aufgehobenen Gesetze nicht nochmals außer Wirksamkeit zu setzen 
haben, andererseits aber einen Akt der Loyalität gegen das Reich erfül- 
len, wenn sie Landesgesetze, welche zwar nicht direkt aber doch den Prin- 
zipien der Reichsgesetzgebung widersprechen oder sonst in Bezug auf ihre 
*) In der Würllembergischen Kammer wurde die ähnliche Frage, ob die 
Schutz= und Trutzbündnisse der verfassungsmäßigen Majorilät bedürften, im Jahr 
1867 durch einfache Majorilät verneint.
	        
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