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bekannte, ebenso entgegengesetzt, wie die Theorie der Bundes=
staatler, denen immer noch die Frankfurter Verfassung vor=
schwebt.
Über dieses Thema hat in Tübingen am 20. Juli 1899 der
an Stelle von Professor v. Martitz ernannte neue ordentliche
Professor für Staats= und Völkerrecht, Dr. Anschütz (jetzt in
Heidelberg) seine Antrittsrede gehalten.²) Die Reichsverfassung
sei Bismarcks eigenstes Werk. Er wolle speziell Bismarck schil=
dern als Mann des Gedankens, und zwar des staatsrechtlichen
und politischen Gedankens. Man könne aus seinen Reden und
Aktenstücken ein ganzes staatsrechtliches System herauslesen.³)
Bismarck, der Mann der Praxis, sei an seinem Teil auch
ein großer Theoretiker gewesen, ein Mann der Wissenschaft, frei=
lich nicht in des Wortes landläufigem Sinn. Er verstand es,
den Dingen auf den Grund zu gehen; der bildende Künstler
würde vielleicht sagen: „Er sah recht,“ und ein Gott habe ihm
gegeben, zu sagen, was er sah.
Wie habe nun Bismarck die Reichsverfassung aufgefaßt?
Die Grundfrage des deutschen Reichsstaatsrechts sei wohl die:
in welche Kategorie von politischen Formen ist das Deutsche
Reich einzureihen? Die Frage sei insofern keine Frage mehr,
als wir fast alle der Meinung sind: das Deutsche Reich ist
jedenfalls ein Staat, und seine Verfassung ist, so kompliziert sie
auch sein möge, die Verfassung eines nationalen Staatswesens.
Ein Laie, dem man die Frage vorlegen wollte, würde diese Ant=
wort für selbstverständlich halten. Dennoch gebe es Meinungs=
verschiedenheiten. Der bayerischen Schule unter dem Staatsrechts=
lehrer Max v. Seydel sei es vorbehalten geblieben, in diesem
Punkte eine eigene Meinung zu haben und daran festzuhalten.
Seydel behauptet nämlich, daß das Deutsche Reich keine Einheit,
sondern eine Vielheit von Staaten in vertragsmäßiger Ver=
²) „Bismarck und die Reichsverfassung.“ Ein Vortrag von Professor
Dr. G. Anschütz, Berlin 1899. Carl Heymanns Verlag.
³) Vergl. hierzu: Rosin, Grundzüge einer allgemeinen Staatslehre nach den
politischen Reden und Schriftstücken des Fürsten Bismarck, in Hirths Annalen 1898