258
gebung, während die Ernennung eines Reichstagsabgeordneten
nur den 397sten Anteil an der Gesetzgebungskörperschaft bedeuten
würde. Außerdem steht den Bundesratsmitgliedern das Recht
zu, im Reichstage jederzeit in jeder Sache das Wort zu er=
greifen, ohne daß der Reichstagspräsident es hindern könnte,
und selbst wenn das Bundesratsmitglied für eine Sache spricht,
die im Bundesrat in der Minorität geblieben ist⁸²). Dem Bundes=
rate ist die Möglichkeit der Mitwirkung im nationalen Leben
gegeben, und es hat mir eine Enttäuschung bereitet, daß von
diesem Rechte bisher nicht mehr Gebrauch gemacht worden ist.
Wie die Verfassung in ihren Grundzügen angelegt wurde, hatte
ich mir gedacht, daß die Bundesbevollmächtigten auch im Reichs=
tage mehr sprechen würden, und daß jeder Staat von den In=
telligenzen, die er zur Verfügung hat, abgesehen von denjenigen,
welche in seinen ministeriellen Ämtern sind, auch im Reichstage
Gebrauch machen würde. Ich dachte mir außerdem, daß die
Landtage der einzelnen Staaten sich an der Reichspolitik lebhafter,
als bisher geschehen, beteiligen würden, daß die Reichspolitik
auch der Kritik der partikularistischen Landtage unterzogen werden
würde. Dafür weiß ich bisher kein Beispiel; nichtsdestoweniger
bin ich mit dieser Meinung im verfassungsmäßigen Rechte. Ich
hatte mir bei der Aufstellung der Verfassung ein reicheres Or=
chester der Mitwirkung in den nationalen Dingen gedacht, als
es sich bisher betätigt hat, weil die Neigung zur Mitwirkung in
den einzelnen Staaten nicht in dem Maße, wie vorausgesetzt
worden, vorhanden war. Denken Sie, daß die nationalen
Interessen nicht nur in unserm Bundesrate und im Reichstage
diskutiert, sondern auch in den einzelnen Landtagen vertreten und
besprochen würden: würde die Teilnahme dafür nicht lebhafter
⁸²) Vergl. hierzu Artikel 9 der „R. V.“ Derselbe lautet:
„Jedes Mitglied des Bundesrates hat das Recht, im Reichs=
tage zu erscheinen und muß daselbst auf Verlangen jederzeit
gehört werden, um die Ansichten seiner Regierung zu vertreten, auch dann,
wenn dieselben von der Majorität des Bundesrates nicht adoptiert worden sind.
Niemand kann gleichzeitig Mitglied des Bundesrates und des Reichstages sein.“