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1878 zu Kissingen mit dem von München dahin gekommenen
damaligen Nuntius zu München, Masella, und im Sommer 1879
zu Gastein und Wien mit dem Kardinal Jaeobini hatten. Es
fanden infolgedessen während des folgenden Winters mehrere
Monate hindurch zu Wien zwischen beiderseitigen Sachverstän=
digen fortlaufende Besprechungen statt. Diese Besprechungen
hatten nicht den Charakter von eigentlichen Verhandlungen, weil
für den preußischen Staat die Grundlinien der Regulierung des
Grenzgebiets zwischen Staat und Kirche durch die Gesetzgebung
von 1873—1875 gezogen waren. Andererseits verließ die Kurie
nie den Standpunkt, daß sie die Grenzen der Übung ihrer
Machtvollkommenheit im allgemeinen und im besonderen jederzeit
selbst zu ziehen habe. Die preußische Staatsregierung hatte auch
nur gehofft, einen modus vivendi vereinbaren und ins Leben rufen
zu können. Dieser Ausdruck, der eine verträgliche Art des Zu=
sammenlebens bezeichnet, ist in dem Verhältnis zwischen Staat
und Papsttum dahin zu verstehen, daß der Staat seine Rechte
gegenüber der Kirche in einer Weise ausübt, welche das Papsttum
geschehen läßt, ohne das Recht des Staates damit grundsätzlich
anzuerkennen. Die Erörterungen, welche zu Wien zwischen beider=
seitigen Sachverständigen gepflogen wurden, hatten also den
Zweck, eine Übung der Aufsichtsrechte und Vorbeugungsmittel
des Staates aufzufinden, welche, ohne die Grenzen der Staats=
hoheit zu verrücken, die praktischen, nicht die grundsätzlichen Be=
schwerdepunkte der Kurie abstellen oder beschränken sollte; dafür
glaubte der Staat erwarten zu können, daß die Kurie den Wider=
stand der Geistlichen und eines Teiles der katholischen Laien
gegen die Staatsgesetzgebung nicht nur nicht länger anfachen,
sondern vielmehr den Gehorsam anbefehlen werde.
Die Auffindung eines solchen modus vivendi scheiterte
zunächst.
Darauf richtete Leo XIII. unter dem 24. Februar 1880 an
den seines Amtes entsetzten, im Ausland befindlichen Erzbischof
Paulus Melchers von Köln aus Anlaß einer von dem letzteren
herausgegebenen Erklärung zu der Enzyklika des Papstes über
Bismarcks Staatsrecht. 29