Grundpflichten und Grundrechte. (8. 53.) 91
als es sich um Abhilfe von Beschwerden über Verweigerung oder Verzögerung der Rechts-
pflege, oder gegen etwaige verfassungswidrige Einrichtungen der Rechtspflege innerhalb
deren Wirkungskreises handelt. Beschwerden der ersteren Art sind jetzt in letzter Instanz
Reichssache und gehen nach Art. 77 der Reichsverfassung an den Bundesrat. Auch bleiben
alle diejenigen Bittgesuche der Behandlung seitens der Kammern entzogen, welche deren
Einwirkung auf das nach Abs. 1 des Art. 49 nur dem Könige zustehende Recht der
Begnadigung und Strafmilderung bezwecken. Die Beschwerde darf nach Wahl des Be-
schwerdeführers bei der einen wie bei der anderen Kammer eingereicht werden. Jedes
der beiden Häuser hat selbständig, und ohne an die Zustimmung des anderen Hauses ge-
bunden zu sein, das Recht, die bei ihm eingegangenen Beschwerden an die Minister zu
überweisen und von denselben Auskunft über sie zu verlangen (Art. 81, Abs. 3 der
Verfassungsurkunde). Demjenigen Hause, welchem eine solche Beschwerde überreicht wird,
liegt die Pflicht ob, dieselbe in geschäftsordnungsmäßiger Weise zu prüfen und wenn es
dieselbe nach seiner Uberzeugung für begründet erachtet, die ihm zustehenden Mittel zur
Abhilfe zu ergreifen, also dieselbe den Ministern mit dem Antrage auf geeignete Berück-
sichtigung, beziehungsweise zur Bewirkung der Abhilfe zu überweisen. Bedarf es zur
näheren Aufklärung vorher einer Auskunft seitens der Minister, so sind diese, nach Art. 81,
Abs. 3 der Verfassungsurkunde, zu deren Erteilung verpflichtet, insoweit dem nicht wich-
tige Gründe des Staatsinteresses entgegen stehen, worüber die Entscheidung ausschließlich
im Ermessen der Regierung steht; auch würde nichts entgegenstehen, zu diesem Zwecke von dem
nach Art. 82 der Verfassungsurkunde jedem Hause zustehenden Rechte, behufs der Information
Kommissionen zur Untersuchung von Tatsachen zu ernennen, Gebrauch zu machen.!
b) Auch bei den Provinziallandtagen können Beschwerden angebracht werden. Der
Landtag kann dergleichen Bitten und Beschwerden an die Behörden oder an den König
unmittelbar verweisen. Alle bei dem Landtage eingehenden Anträge müsssen schriftlich
eingegeben werden; der Landtag darf von ihm befürwortete Anträge nach erfolgter Ab-
lehnung derselben nur dann erneuern, wenn wirklich neue Veranlassungen oder neue
Gründe eintreten. Den Provinziallandtagen aller Provinzen selbst steht gleichfalls die
Befugnis zu, Anträge und Beschwerden, welche die Provinz oder einzelne Teile derselben
betreffen, an die Staatsregierung zu richten.?
B. Recht der Petition.
I. Das Recht der Petition i. e. S. besteht in der Befugnis des einzelnen Staats-
bürgers oder einer zu diesem Zwecke zusammengetretenen Anzahl von Staatsbürgern,
den Staatsbehörden? oder den Kammern Bitten, Wünsche und Vorschläge über allge-
meine, öffentliche und gemeinnützige Angelegenheiten vorzutragen. Dies Recht steht nach
Art. 32 der Verfassungsurkunde allen Preußen zu, und unterliegt danach nur der Be-
schränkung, daß Petitionen unter einem Gesamtnamen nur Behörden und Korpora-
tionen (Art. 31 der Verfassungsurkunde) gestattet sind, mithin nicht Vereinen, welche
1 Dieser Ansicht ist auch Zöpfl, Gem. d. St.
R., 5. Aufl., Teil II, S. 442—444. S. dazu
weiteres Bd. 1., S. 359 ff.
?* Bgl. §. 43 der Prov. O. v. 29. Juni 1875.
Übereinst. die übrigen Prov. Ord., Modifikation
nur für Hessen-Nassau (Prov. Ord. §. 40), wo
an Stelle des Provinziallandtags die Kommunal-
landtage der beiden Regierungsbezirke treten.
* Dies Petitionsrecht erkannte schon der 8.
156 A. L. R., Bd. II, S. 20 an: „Einem
jeden steht frei, seine Zweifel, Einwendungen und
Bedenklichkeiten gegen Gesetze und andere An-
ordnungen im Staate, sowie überhaupt seine Be-
merkungen und Vorschläge über Mängel und Ver-
besserungen sowohl dem Oberhaupte des Staates,
als den Vorgesetzten des Departements anzuzeigen,
und letztere sind dergleichen Anzeigen mit er-
forderlicher Aufmerksamkeit zu prüfen verpflich-
tet.“
* Bei der Revision des Art. 32 ist zur Sprache
gekommen, inwieweit den Behörden und Kor-
porationen ein Petitionsrecht einzuräumen sei.
Der in der Revisionskomm der II. K. gestellte
Antrag, zu bestimmen, „daß ihnen solches nur
innerhalb ihres Wirkungskreises gebühren solle“,
wurde abgelehnt, weil diese Beschränkung unaus-
führbar sei, und weil der vorgesetzten Behörde
obliege, Behörden und Korporationen in diejenigen
Grenzen zurückzuweisen, welche ihnen für ihren
Wirkungskreis gezogen sind. (Stenogr. Ber. der
II. K. 1849—50, Bd. II, S. 633). Daß die
Frage, wie weit sich die Petitionsberechtigung der
Behörden und Korporationen erstrecke, aus sehr
abweichenden Standpunkten beurteilt werden kann,