Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Zweiter Band. (2)

Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetze. (8. 50.) 5 
ganzen Ständeklassen als solchen zugestanden haben. So unklar und so verschieden 
auch im übrigen die Ansichten über den „Rechtsstaat“ sein mögen, in diesem, 
dem wichtigsten Punkte besteht volle Klarheit und kann keine Meinungs- 
verschiedenheit bestehen: 
die Gesetze des Staates sind gegen jedermann 
ohne Ansehen der Person an zuwenden. Im übrigen erscheint es immer bedenklich, 
derartige allgemeine, durch Auslegung unmöglich in ihrer Tragweite sicher abzugrenzende 
  
Leben bezeichnet, erscheinen, können nicht aufge- 
hoben werden.“ Vgl. Stenogr. Ber. der Nat. Vers., 
Bd. III, S. 1877; desgl. die Motive v. 11. Juni 
1849 zum Entw. der Unionsverfassung v. 28. März 
1849, S. 137. 
1 Dieser wahre Sinn des Art. 4 der Verf. 
Urk., wie er bereits bei der Revision desselben 
(s. Stenogr. Ber. der I. K., 1849—50, Bd. II, 
S. 643 ff., und der II. K. Bd. I, S. 512 ff.) ent- 
wickelt worden, ist bei der Beratung über den 
abgelehnten Antrag des Abg. Wagener auf 
Aufhebung der beiden ersten Sätze des gedachten 
Artikels (vgl. Drucks. des Abg. P. 1855—56, 
Nr. 41, und Stenogr. Ber. desselben 1855—56, 
S. 607—619, nebst Anl. Bd., S. 171ff. besonders 
treffend von dem Abg. Wentzel gegen die 
Interpretationen, welche dem Artikel von anderen 
Seiten her gegeben, und gegen die unrichtigen 
Folgerungen, welche demnächst hieraus hergeleitet 
wurden, entwickelt worden. Der Komm. Ber. v. 
25. Jan. 1856 über den Wagenerschen Antrag 
führt nämlich aus: der Satz der „Gleichheit vor 
dem Gesetze“ könne dahin verstanden werden, daß 
vermöge der wahren Gleichheit, die ebenso anzu- 
erkennen sei, als die rechtlich bestehenden Ungleich- 
heiten, allen Untertanen gleichmäßiger Rechtsschutz, 
jedem für sein Recht, und überhaupt gleiche Be- 
handlung zugesichert, und eben durch diese gleich- 
mäßige Gerechtigkeit die Ungleichheit der indivi- 
duellen Rechtssphäre aufrecht erhalten werden 
solle, und: der zweite Satz: „keine Standesvor- 
rechte“ lasse sich gleichfalls verteidigen, wenn man 
den Begriff: „Stand“ gehörig begrenze, und 
Standesrechte von unzulässigen, in Preußen nicht 
vorhandenen Standesvorrechten unterscheide. In- 
des gibt der Bericht selbst zu, daß diese Aus- 
legung nicht allein dem natürlichen Sinne, wie 
solcher bei der Abfassung des Artikels beabsich- 
tigt worden, widerstreite, sondern auch, daß nur 
durch eine sehr gezwungene Interpretation ihm 
jener als möglich behauptete Sinn untergelegt 
werden könne (s. Stenogr. Ber. des Abg. H. 
1855—56, Anl. Bd. S. 174—175), und nicht 
ohne Berechtigung bemerkte hiergegen der Abg. 
Wentzel (s. Stenogr. Ber., S. 612), daß solche 
Behandlung des Gegenstandes nicht in die Sache 
eindringe, sondern dieselbe mit Ironie behandle. 
Auch hat der Abg. Wagener sich bei der 
Motivierung seines Antrages auf Streichung der 
beiden ersten Sätze des Art. 4 keineswegs den 
Interpretationsversuchen des Komm. Ber. ange- 
geschlossen, sondern vielmehr jene Sätze als un- 
richtig und verwerflich bezeichnet, und des- 
halb ihre Beseitigung verlangt (s. a. a. O., S. 
608—612). — In welcher Weise indes damals 
wenigstens der Art. 4 von seiten der Staats- 
regierung aufgefaßt wurde, ergibt sich aus der 
hierüber (a. a. O., S. 614) von dem Minister 
  
des Inn. erteilten Auskunft. Derselbe bemerkte 
nämlich: „Die Regierung hat seither in dem 
Art. 4 zwar den Sinn gefunden und anerkannt, 
daß für gleiche rechtliche Zustände, Verhältnisse 
und Handlungen auch Gleichheit des Gesetzes in 
Ansehung des Standes stattfinden soll; hiermit 
hat die Regierung es aber immer für vereinbar 
gehalten, daß — auch mit Rücksicht auf die 
Vorschriften des A. L. R., Einl., §§. 61—62 
und 70, — die Besonderheiten in den Rechten 
und Pflichten einzelner Stände, Klassen und 
Korporationen, welche nach den Spezial= und 
Partikulargesetzen zu Recht bestehen und durch 
den Organismus des Staates bedingt sind — 
also namentlich solche besondere Einrichtungen, 
welche auf Erhaltung eines dem Staatsorganis- 
mus angehörenden Standes oder einer Korporation 
abzwecken, — durch den Art. 4 nicht ohne weiteres 
für aufgehoben zu erachten, sondern vielmehr als 
fortbestehend anzusehen sind. Diese Auslegung ist 
auch dadurch als richtig anerkannt worden, daß 
die Verf. Urk. selbst solche Rechtsbesonderheiten 
für einzelne Klassen und Stände sanktioniert, 
was sie nicht könnte, wenn darin ein Widerspruch 
gegen den Art. 4 läge. So die Vorrechte und 
Rechtsbeschränkungen des Militärstandes, die Vor- 
rechte der Richter, die Vorrechte der Abgeordneten 
aus Art. 84.“ — Der Minister fügte hinzu: 
daß die Regierung bei dieser ihrer Interpretation 
des Art. 4 ein dringendes Bedürfnis zur Be- 
seitigung desselben zurzeit nicht anerkenne, sich 
indes vorbehalte, eine Zusatzbestimmung dazu in 
Antrag zu bringen, welche nachteiligen Miß- 
deutungen vorbeugen solle. — Daß die Aus- 
legung, welche hiernach das Staatsministerium 
dem Art. 4 gab, mit derjenigen nicht überein- 
stimmt, welche demselben bei der Beratung 
des Artikels seitens der damaligen Vertreter der 
Staatsregierung gegeben worden ist, erhellt aus 
den in der vorigen Note allegierten Revisions- 
verhandlungen, und insbesondere aus der dort 
angeführten ausdrücklichen Erklärung des Staats- 
ministers Eichmann. Indessen hat der Steeit über 
die Auslegung des Art. 4 durch die Entwicklung 
der öffentlichen Dinge seine Bedeutung mehr 
und mehr verloren: die allgemeine Auslegung 
stimmt heute mit derjenigen des Ministers Eich- 
mann überein; daß dadurch die besondere 
Ordnung der Rechtsverhältnisse gewisser Berufs- 
stände nicht ausgeschlossen ist — Handelsgesetzbuch, 
Gewerbeordnung — ist heute für jedermann 
selbstverständlich. Insonderheit aber steht nichts 
entgegen, durch die Verfassung selbst Bestimmungen 
zu treffen, welche die Regel des Art. 4 einschränken 
und sich dann als Ausnahmen zu dieser ver- 
halten, folglich sie nicht aufheben, sondern be- 
stärken. Zutreffend äußert sich zu Art. 4 Schwartz, 
Komm. S. 50.
	        
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