674 Die Staatsbehörden.
(§. 101.)
D. Eine besonders ausgezeichnete Stellung in der preußischen Gerichtsorganisation
nimmt auch heute noch das altberühmte Kammergericht ein; es ist in einem be-
stimmten Umfange für Strafsachen auch jetzt noch das letztentscheidende Obertribunal der
preußischen Monarchie. Dieses, nämlich das Oberlandesgericht in Berlin, ist ausschließ-
lich zuständig für die Verhandlung und Entscheidung: a) über die nicht zur Zuständig-
keit des Reichsgerichts gehörenden Revisionen gegen Urteile der Strafkammern in erster
Instanz; b) über die Revision gegen Urteile der Strafkammern in der Berufungsinstanz
und über alle Beschwerden gegen Entscheidungen der Strafkammern, sofern eine nach
Landesrecht strafbare Handlung den Gegenstand der Untersuchung bildet.! Den übrigen
Oberlandesgerichten verbleibt also nur die Revision und Beschwerde gegen die zu b) be-
zeichneten Urteile und Entscheidungen, sofern eine nach Reichsrecht strafbare Handlung
den Gegenstand der Untersuchung bildet, sowie die einzelnen Funktionen der Oberlandes-
gerichte im Strafprozesse, welche sich nicht auf ein eingelegtes Rechtsmittel beziehen.
Durch die preußische Landesgesetzgebung ist die Entscheidung über das Rechtsmittel der
weiteren Beschwerde dem Kammergericht zugewiesen worden s in den Fällen der 8§. 27,
64, 143, Abs. 2 F. G. G.“ und des §. 78 G. B. O.
E. Das Reichsgericht zu Leipzig.?
1. Dasselbe ist mit einem Präsidenten und der erforderlichen Anzahl von Senats-
präsidenten und Richtern besetzt.“ Es werden bei demselben Zivil= und Strafsenate
gebildet, deren Zahl der Reichskanzler bestimmt.? Dieselben entscheiden in der Besetzung
von sieben Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden.* Behufs Vermeidung beziehungs-
weise Beseitigung von Widersprüchen in der Rechtsprechung verschiedener Senate sieht
das Gesetz Plenarentscheidungen? vor, sei es der vereinigten Zivilsenate,
sei es der vereinigten Strafsenate, sei es der vereinigten Zivil= und Straf-
senate. Der dieser Einrichtung zugrunde liegende staatsrechtliche Gedanke ist die
notwendige Einheit der Rechtsprechung; die prozessualen Einzelvorschriften enthält
1 §. 9 des Einführ. Ges. zum D. Gerichts-
verf. Ges., §. 50 des Ausführ. Ges. v. 24. April
1878; Laband III, S. 386.
* §§. 4, 12—15, 19, 27, 170 der D. Straf-
prozeß-O.
3 S. §. 199 F. G. G. (R. G. Bl. 1878,
S. 771) und §. 102 G.N B. O. (R. G. Bl.
1898, S. 754).
"„ Auch gilt das Kammergericht im Sinne der
§§. 5, 46 F. G. G. als gemeinschaftliches oberes
Gericht für alle Gerichte Preußens. §S. 19)9,
Abs. 2 F. G. G.
5 Vgl. L. v. Bar, Das deutsche Reichsgericht
(Berlin, 1875), Struckmann und Koch II,
S. 556 ff. Das Reichsgericht ist erwachsen aus dem
gemäß G. v. 12. Juni 1869 (B. G. B., S. 201)
errichteten Bundesoberhandelsgericht; der Streit
über die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes
(Laband II, S. 33 ff., III, 336 f.) kann heute
füglich auf sich beruhen.
6 §. 126 des D. Gerichtsverf. Ges. — lber
die persönlichen Rechtsverhältnisse der Mitglieder
des Reichsgerichts bestehen besondere Vorschriften.
Dieselben werden auf Vorschlag des Bundesrats
von dem Kaiser ernannt (§5. 127, Abs. 1 des D.
Gerichtsverf. Ges.). Zum Mitgliede des Reichs-
gerichte kann nur ernannt werden, wer die Fähigkeit
zum Richteramte in einem Bundesstaate erlangt
und das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet
hat (§. 127, Abs. 2 a. a. O.). Ein Mitglied
des Reichsgerichts kann nur durch Plenarbeschluß
des Reichsgerichts und nur dann seines Amtes
und seines Gehaltes für verlustig erklärt werden,
wenn das Mitglied zu einer Strafe wegen einer
entehrenden Handlung oder aber zu einer Frei-
heitsstrafe von längerer als einjähriger Dauer
rechtskräftig verurteilt ist (§. 128 a. a. O.1.
Wenn ein Mitglied durch ein körperliches Ge-
brechen oder durch Schwäche seiner körverlichen
oder geistigen Kräfte zur Erfüllung seiner Amts-
pflichten dauernd unfähig wird, so tritt seine
Versetzung in den Ruhestand gegen Gewährung
eines Ruhegehalts (vgl. über dessen Betrag und
Berechnung §. 130, Abs. 2, 3 a. a. O.) ein
(5. 130, Abs. 1 a. a. O.); wird dieselbe von
dem Mitgliede selbst auch auf Aufforderung der
Präsidenten nicht beantragt, so ist sic durch
Plenarbeschluß des Reichsgerichts auszusprechen
(§. 131 a. a. O.).
!' §. 132 des D. Gerichtsverf. Ges. Zurzen
bestehen sieben Zivilsenate und vier Strafsenate
(vgl. §. 1 der auf Grund des S§. 141 a. a. O.
erlassenen, von dem Bundesrate bestätigten Ge-
schäftsordnung des Reichsgerichts v. S. April
1880, D. Zentralbl. 1880, S. 190).
s §. 140 des D. Gerichtsverf. Ges.
* Laband, Zd. III. S. 414; Struckmann
und Koch, Bd. II, S. 560 ff. Der beutige
§. 137 ist erst entstanden durch eine wiederhol#u#
Revision der ursprünglichen Gesetzgebung: G. v.
17. März 1886 (R. G. Bl., S. 61) und G. v.
17./20. Mai 1898 (R. G. Bl., S. 369 ff., besondere
397).— Zur Kontrolle der Einheit der Rechtsprechung
werden besondere Präjudizienbücher geführt val.
§. 23 der Geschäftsordnung des Reichsgerichts v.
S. April 1880, Zentralbl. des D. R. 1880, S. 130.