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aller christlichen Völker Staat und Kirche als zwei wesentlich selbständige Ver-
bände. Da aber diese beiden wichtigen nebeneinander bestehenden Verbände vielfach
miteinander in Berührung kommen müssen, bedarf es einer Ordnung der Beziehungen
des Staates zur Kirche und zu den kirchlichen Einrichtungen. Namentlich fallen die
kirchlichen Verhältnisse insoweit in den Bereich des Staates, als die Kirche auch eine
äußere Organisation besitzt. Das rechtliche Verhältnis des Staates zu den christlichen
Kirchen und zu anderen Religionsgesellschaften? gehört daher zu den Gegenständen des
positiven Verfassungsrechtes. Der Inbegriff aller Rechtsvorschriften über die Beziehungen
des Staates zur Kirche heißt das Staatskirchenrecht (jus publicum ecclesia-
sticum).ꝰ
II. Über das Verhältnis insbesondere der christlichen Kirchen zum Staate sind
die Grundansichten zu den verschiedenen Zeiten sehr abweichend gewesen.“ Man hat
den Rechten des Staates bald weitere, bald engere Grenzen gezogen. Nachdem im
römischen und griechischen Reiche das Christentum zur Staatsreligion erhoben war, wurde
die Kirche zur Staatskirche im strengsten Sinne des Wortes.? Der Kaiser war
gleichzeitig das äußere Oberhaupt des Staates und der Kirche. Er übte nicht bloß die
Vorbemerkungen.
zwischen Staat und Kirche, 1872; Richter-Dove-
Kahl, Kirchenrecht 2, 1886, 88§. 69—74, 98—
102; v. Schulte, Lehrb. des kath. und evang.
Kirchenrechts, 1886, S. 42 ff.; Zorn, Kirchen-
recht, 1888, S. 178 ff., 208 ff.; Kahl, Lehrsystem
des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik, 1894,
S. 246 ff.; Stutz, Kirchenrecht, in v. Holtzen=
dorff-Kohlers Enzykl.", 1914, Bd. V, S. 392 ff.,
398 ff.; Schoen, Evangel. Kirchenrecht in Preußen,
Bd. I, 1903, S. 154 ff.; Friedberg, Kirchen-
recht"“, 1909, S. 36 ff., 52 ff., 71 ff., 98 ff.,
108 ff.; Frantz, Kirchenrecht 3, 1899, S. 60 ff.;
Kahl, Kirchenrecht, in „Systematische Rechts-
wissenschaft“:, 1913, S. 309 ff.; Rothenbücher,
Die Trennung von Staat und Kirche, 1908;
Rothenbücher, Wandlungen in dem Verhält-
nisse von Staat und Kirche in der neueren Zeit, im
Jahrb. des öffentl. Rechts, Bd. III, 1909, S. 336 ff.;
O. Mayer, Ist eine Anderung des Verhältnisses
zwischen Kirche und Staat anzustreben? Vor-
trag, 1909; Böckenhoff, Kathol. Kirche und
moderner Staat, 1911; Giese, Deutsches Kir-
chensteuerrecht, in Stutz' Kirchenrechtl. Abhand-
lungen, 1910, Heft 69—71, S. 583 ff.; Born-
hak, Pr. St. R.2, Bd. III, 1914, S. 633 ff.
Weitere Literaturangaben in den ständigen lber-
sichten in Deutsche Ztschr. f. Kirchenrecht, Arch. f.
kath. Kirchenrecht, Theolog. Jahresbericht, Stier-
Somlos Jahrb. des Verwaltungsrechts.
1 Der Gegensatz von Staat und Kirche war
im Altertum nicht zur klaren Anschauung ge-
kommen. Noch die Römer sahen das jus sacrum
als einen Bestandteil des jus publicum an. Erst
das Christentum hat dahin geführt, die Kirche
als die religiöse Gemeinschaft der Menschen
dem Staate als der politischen Gemeinschaft
selbständig zur Seite zu stellen.
2 Sowohl Kirchen als auch andere Reli-
gionsgesellschaften sind Verbindungen von Men-
schen zur gemeinsamen Gottesverehrung; indes
wird in den modernen staatlichen Gesetzgebungen
(auch nach der Terminologie des preuß. A. L. R.
und der preuß. Verf. Urk.) die Bezeichnung „Kirche“
nur von den öffentlich ausgenommenen, mit den
Rechten privilegierter Korporationen ausgestatteten
Religionsgesellschaften gebraucht (Friedberg,
Kirchenrecht, S. 12, 2, 113 f.; Kahl, Lehrsystem,
S.341; Arndt, Preuß. Verf. Urk.7, 1911, S. 113).
3 Das „Recht“ der Kirche lediglich als reli-
giöser Gemeinschaft ist bei dem vom Staate
insoweit unabhängigen Wesen der Kirche kein
Teil des staatlichen Rechts, vom staatlichen Stand-
punkte aus überhaupt kein wirkliches Recht. Was
dagegen das Recht der Kirche als eines eine
äußere Erscheinung annehmenden Verbandes
(also abgesehen von dem religiösen Charakter) be-
trifft, so gehört die Bestimmung dieser äußeren
Verhältnisse der Kirche zugleich in das staatliche
Recht und bildet einen besonderen Teil desselben
mit der Bezeichnung „Staatskirchenrecht".
Das Staatskirchenrecht begreift nur das Verhält-
nis der Kirche zum Staate in sich, das öffent-
liche Kirchenrecht wird damit keineswegs er-
schöpft; denn letzteres ist der Inbegriff aller der-
jenigen Rechtssätze, welche sich auf Verfassung
und Verwaltung der Kirche und auf das Ver-
hältnis der Mitglieder der Kirche zur Kirchen-
gewalt beziehen. Das öffentliche Kirchenrecht be-
greift nicht bloß die rechtlichen Beziehungen der
Kirche nach außen (jus ecclesiasticum externo-
publicum), sondern auch nach innen (jus eccles.
interno-publ.), den Inbegriff aller Rechtsver-
hältnisse, weche sich auf die Anordnung und Lei-
tung des kirchlichen Organismus beziehen (ogl.
Niedner, Der Begriff der innerkirchlichen An-
gelegenheiten, Jena 1911). In das Gebiet des
staatlichen Rechts gehört das Kirchenrecht
nur insoweit, als nicht das Recht der Kirche von
ihrem eigenen Standpunkte aus, sondern das
Verhältnis des Staates zur Kirche und den kirch-
lichen Einrichtungen vom Standpunkte des Staa-
tes aus betrachtet wird.
4 Gute Übersicht bei Kahl, Lehrsystem des
Kirchenrechts und der Kirchenpolitik, 1894, 252 ff.
Über die Geschichte des Kirchenrechts jetzt vor
allem Stutz, Kirchenrecht, in v. Holtzendorff-
Kohlers Enzyklopädie der Rechtswissenschaft?, Bd. V,
S. 279 ff.; über die grundsätzlichen Beziehungen
von Staat und Kirche das. S. 392 ff.
5 Uber das römische Kirchenrecht Stutz a. a. O.
Bd. V, S. 287 ff., bes. 298f.