8 Die Gesetzgebung. (§. 110.)
S. 110.
Der Weg der Gesetzgebung.1
1. Bereits vor Erlaß der Verfassungsurkunde hatte das Gesetz v. 6. April 1848
über einige Grundlagen der künftigen preußischen Verfassung (§. 6) die Zusicherung
ausgesprochen, „daß den künftigen Vertretern des Volkes jedenfalls die Zustimmung zu
allen Gesetzen zustehen solle“. Auf Grund dessen nahm der Verfassungsentwurf v. 20. Mai
1848 (§. 36) diejenigen Bestimmungen auf, welche jetzt in dem Art. 62 der Ver-
fassungsurkunde (Abs. 1 u. 2) enthalten sind 4, nämlich: a) die gesetzgebende Gewalt wird
gemeinschaftlich durch den König und zwei Kammern ausgeübt; a) die übereinstimmung
des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetz erforderlich.
Hiernach gelten folgende Grundsätze:
a) Es kann kein Gesetz im engeren (konstitutionellen) Sinne anders zustande
kommen, als wenn beide Kammern (das Haus der Abgeordneten und das Herrenhaus)
und der König über dessen Inhalt vollständig übereinstimmen. Das Recht der Teilnahme
der Kammern an der Gesetzgebung ist also nicht beschränkt auf gewisse Gattungen der
Gesetze, sondern ein ganz allgemeines, und es bestehen hiervon gar keine Ausnahmen,
weder hinsichtlich gewisser Gegenstände der Gesetzgebung noch hinsichtlich des territorialen
Umfanges des Rechtsgebietes, für das ein Gesetz rechtliche Kraft erlangen soll. Der
territoriale Umfang der Gesetzgebung bestimmt sich lediglich durch die Souveränität des
Staates: quidquid est in territorio, est etiam de territorio. Die Zustimmung
der Kammern ist zu allen Gesetzen erforderlich. Andererseits begründet es in dieser
Hinsicht auch keinen Unterschied, ob ein Gesetz für den ganzen Umfang des Staats-
gebietes oder nur für einzelne Teile desselben (Provinzen, Bezirke, Kreise) rechtliche
Gühltigkeit erhalten soll. Wenn daher die Staatsregierung Gesetzentwürfe von nur pro-
vinziellem oder gar nur örtlichem Interesse den Vertretungskörperschaften der Provinzen
oder Kreise vor der Einbringung in die Kammern zur Erklärung vorlegt, so kann den-
noch aus den Beratungen und Beschlüssen dieser Organe lediglich ein legislatives Gut-
achten hervorgehen, welches weder für den König noch für die jedenfalls unerläßliche
Beratung und Beschlußnahme der Landesvertretung bindend ist, dessen Bedeutung sich
vielmehr nur nach dem Werte seines Inhaltes bestimmt. Denn das Recht der Gesetz-
gebung ist durch die Verfassung ganz allgemein, folglich auch bezüglich aller Gegenstände
von provinziellem und lokalem Interesse,
Kammern übergegangen.
ausschließlich auf den König und die beiden
1 Uber das vor Erlaß der Verf. Urk. be-
standene Recht zur Gesetzgebung vgl. oben Bd. I,
§ 7, III, S. 138 ff.
G. Meyer- Anschütz, 88§. 158, 163; Born-
hak?, I, S. 522 ff.; v. Schulzei, II, S. 11 ff.;
Laband, II, §. 55; Jellinek, Gesetz und Ver-
ordnung, S. 312 fl.; Fleischmann, Der Weg
der Gesetzgebung, 898.
2 G. S. 1848, S. 87— 88; s. oben Bd. I,
S. 61.
3 Stenogr. Ber. der Nat. Vers., Bd. I, S. 3.
*Der Art. 36 des Regierungsentwurfs der
Verf. Urk. ist wörtlich in den Art. 60 der oktr.
Verf.Urk. vom 5.0Dez. 1848 (G. S. 1818, S. 383)
übertragen und wurde bei der Revision der letztern.
von beiden Kammern unverändert gelassen. Der
jetzige Abs. 3 des Art. 62 der revid. Verf. Urk.
(betr. die Finanzgesetzentwürfe und Staatshaus-
haltsetats) ist erst bei der Schlußrevision auf den
Antrag der Krone hinzugefügt worden (s. unten).
5 Das Gesetz wegen Anordnung der Provin-
Uber das heutige Recht ogl.
zialstände vom 5. Juni 1823 (G. S. 1823, S. 129)
bestimmt in §. 3, daß den Provinzialständen
1. die Gesetzentwürfe, welche allein die Provinz
angehen und 2. solange keine allgemeinen stän-
dischen Versammlungen stattfinden, auch die Ent-
würfe solcher allgemeinen Gesetze, welche Ver-
änderungen in Personen= und Eigentumsrechten
und in den Steuern zum Gegenstande haben,
soweit sie die Provinz betreffen, zur Beratung
vorgelegt werden sollen. Das Recht zu 2 war
den Provinzialständen bereits durch das Patent
vom 3. Febr. 1847, betr. die ständ. Einrichtungen,
zu 3 (G. S. 1847, S. 33) durch den §. 12 der Ver-
ordnung vom 3. Febr. 1847 über die Bildung
des Vereinigten Landtages (G. S. 1847, S. 34)
entzogen und auf den Vereinigten Landtag und
in dessen Vertretung auf den Vereinigten Ständ.
Ausschuß übertragen worden; nach Erlaß der
Verf. Urk. ist dieses Recht des Vereinigten Land-
tages bzw. der Vereinigten Ständ. Ausschüsse,
zufolge des Art. 62 der Verf. Urk., auf die beiden