14 Die Gesetzgebung. (8. 110.)
eine Ausnahme von dieser Regel ist unbestreitbar, weil in der Verfassungsurkunde aus-
drücklich vorgeschrieben. Es müssen nämlich (Art. 62, Abs. 3) alle Finanzgesetzentwürfe
und Staatshaushaltsetats stets dem Hause der Abgeordneten zuerst vorgelegt werden; sie
können und dürfen mithin nicht früher an das Herrenhaus gelangen, als bis das Ab-
geordnetenhaus darüber Beschluß gefaßt hat. Die Streitfrage ist im übrigen dahin zu be-
antworten, daß die gleichzeitige Vorlegung in beiden Häusern nicht zulässig, sondern daß
die Staatsregierung — mit Ausnahme des in Abs. 3 des Art. 62 besonders vorgesehenen
Falles — nur die Wahl hat, welcher Kammer sie ihre Vorlage zuerst machen will.
Für diese Ansicht kann allerdings weder Abs. 2 des Art. 64 noch der Abs. 3 des
Art. 62 als entscheidendes Argument angeführt werden, denn das Wort „zuerst“ in
Abs. 3 enthält kein ausdrückliches Verbot der „Gleichzeitigkeit“ für andere Fälle; aus
dem Abs. 2 des Art. 64 ferner ergibt sich nichts für die Frage, denn seiner Anwen-
dung würde durch gleichzeitige Vorlage eines Gesetzentwurfes in beiden Kammern nicht
präjudiziert. Die Ansicht, daß die Zulässigkeit der gleichzeitigen Einbringung in beide
Häuser zu verneinen sei, ergibt sich aber zur Evidenz aus der Natur der Sache,
indem die gleichzeitige Vorlegung nur dazu geeignet ist, in einer oder der anderen
Kammer unnötige Arbeiten und überdies Verwirrüngen zwischen den beiden Häusern
ohne Not hervorzurufen, welche dem Interesse des Zweiklassensystems und dem eigenen
Interesse der Staatsregierung zuwiderlaufen. 3 Der Umstand, daß vermöge des eigenen
Initiativrechtes der Kammern ein und derselbe Gegenstand beide Häuser gleichzeitig be-
schäftigen kann, steht dieser Ansicht keineswegs entgegen.“
vorzulegen, weil die Verf. Urk. dies nicht ver-
biete, und weil die Ausnahmebestimmung des
Abs. 3 des Art. 62 dies Recht sogar bestätige“.
Ebenso Arndt, Verf. Urk., S. 263; Fleisch--
mann, Gesetzg., S. 19; G. Meyer-Anschütz,
§. 158; Schwartz, S. 205.
1 Diese Bestimmung des Abs. 3 des Art. 62
ist aus einer uralten englischen Parlaments-
gewohnheit in die meisten neueren Verfassungen.
übergegangen (s. darüber Blackstone, Com. I,
2, Nr. V, und v. Mohl, Mürttemb. St. R.,
Bd. I, S. 622, N. 3). Sie war in dem Reg.
Entw. v. 20. Mai 1848 nicht enthalten, wurde
indes von der Verf. Komm. der Nat. Vers. (Art. 72,
Abs. 2), und zwar dahin vorgeschlagen, „daß
Gesetzvorschläge über Einnahmen und Ausgaben
des Staates, sowie über Ergänzung des stehen-
den Heeres, zuerst von der 2. Kammer genehmiget
werden müßten“, weil „dergleichen Gesetzentwürfe
am unmittelbarsten das Volksleben berühren, als
dessen unmittelbarster Ausdruck die Abgeordneten-
kammer anzusehen“ ist (s. Rauer, Verhandl. der
Verf. Komm. der Nat. Vers., S. 115 und 131,
und v. Rönne, Verf. Urk., S. 125—126). Die
oktr. Verf. Urk. v. 5. Dez. 1848 hatte jedoch den
Satz nicht aufgenommen und beide Kammern
hatten hiergegen nichts erinnert. Indes brachte
nunmehr die Staatsregierung selbst (in der Bot-
schaft v. 7. Jan. 1850, Proposition VII) einen
Zusatz zum Art. 62 dahin in Vorschlag: Finanz-
gesetzentwürfe werden zuerst in der 2. Kammer vor-
gelegt, weil, wenn die 1. Kammer keine reine
Wahlkammersei, der 2. Kammer — nach konstitutio-
nellen Prinzipien — ein überwiegender Einfluß auf
Finanzfragen eingeräumt werden müsse (Stenogr.
Ber. der 1. K. 1849—50, S. 2216, und der 2. K.
S. 1876). Hierauf wurde dann der Abs. 3 des
Art. 62 in seiner jetzigen Fassung beschlossen und
hinzugefügt (vgl. v. Rönne, Verf. Urk., S. 119
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2 A. A. war v. Rönne, 4. Aufl., Bd. I,
S. 360, der hierüber ausführte, daß „dessen Be-
stimmung mit dem Rechte gleichzeitiger Ein-
bringung unvereinbar und deshalb die „Gleich-
zeitigkeitt für ausgeschlossen zu erachten ist. Denn
würde der Entwurf gleichzeitig bei beiden Häusern.
eingebracht, so könnte die Verwerfung desselben
durch das eine derselben nicht die Wirkung her-
vorbringen, welche jene Bestimmung des Art. 64
bezweckt, — nämlich die, daß alsdann der in
Rede stehende Entwurf in dieser Sitzungsperiode
überhaupt gar nicht mehr Gegenstand der Bera-
tung und Beschlußnahme sein darf, mithin auch
nicht für das andere Haus. Wäre also der Ent-
wurf auch in diesem zugleich eingebracht worden,
so würde dasselbe sich damit dennoch nicht weiter
zu befassen haben, sobald die Ablehnung seitens
des anderen Hauses erfolgt wäre.“
3 Daher hat auch der Gebrauch in allen kon-
stitutionellen Ländern sich dahin entwickelt, daß
die Regierung ihre Vorlagen einer Kammer zuerst
vorlegt, und es empfiehlt sich im eigenen Interesse
der Krone, wie aus Gründen der sachlichen Zweck-
mäßigkeit, daß die Staatsregierung sich dem
Präzedenz anschließe, wie dies inzwischen auch ganz
feststehende Praxis geworden ist. Bornhak: I,
S. 525 f.: „Es steht kein rechtliches Hindernis im
Wege, einen Gesetzentwurf gleichzeitig in beiden.
Häusern einzubringen.“
4 Die hier in Rede stehende Frage ist in der
2. K. (in der 14. Sitzung v. 24. Jan. 1853,
Stenogr. Ber. 1852—53, Bd. J, S. 143 ff.) zur
Erörterung gekommen, und zwar aus Veranlassung
eines Antrags zur Erläuterung der Gesch. O.
hinsichtlich der mit dem Gegenstande verwandten
Frage: ob in beiden Kammern, bzw. deren
Kommissionen, gleichzeitig eine Beratung über
denselben Gegenstand statthaft, oder die Be-
ratung darüber in einer Kammer, bzw. in
deren Kommission, bis dahin auszusetzen sei,