Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

Das Verordnungsrecht. (S8. 111.) 19 
werden, bei welcher die Sache nicht definitiv erledigt worden. Vielmehr findet eine Kon— 
tinuität der Beschlüsse der Kammern nicht statt (Grundsatz der Diskontinuität). Es müssen 
also solche unerledigt gebliebenen Gesetzentwürfe, um von neuem Gegenstand der Be- 
ratung und Beschlußnahme in der nächstfolgenden Kammersitzungsperiode werden zu können, 
erneuert eingebracht werden und die früheren Beschlüsse sind dafür nicht bindend.“ ½ 
Indes ist, zugegeben auch, daß die Praxis sich wiederholt auf diesen Standpunkt gestellt 
hat, die Frage dennoch keineswegs unstreitig. Aus der Natur der Sache ergibt sich der 
Grundsatz nur für Ablauf der Legislaturperiode und Auflösung; eine positive Bestimmung 
in der Verfassungsurkunde fehlt; für einen so weittragenden Rechtsgrundsatz aber wäre 
eine positive Vorschrift unbedingt notwendig (s. auch oben Bd. I, S. 349f.). 
k) lber die Frist, innerhalb deren die Sanktion beschlosener Gesetzentwürfe zu er- 
folgen hat, enthält weder die preußische noch die Reichsverfassung irgendwelche Vorschrift. 
In der Theorie herrscht demgemäß hierüber lebhafter Streit. Die Praxis folgert aus 
dem Schweigen der Verfassungen — und man wird dem zwingende Gegengründe nicht 
entgegensetzen können —, daß die Sanktion an keine Frist gebunden sei. Doch wird 
man immerhin mit gutem Grunde behaupten dürfen, daß der ganze Gesetzgebungsvorgang 
sich wenigstens innerhalb der Legislaturperiode abwickeln soll, da andernfalls die Möglich- 
keit besteht, daß ein Entwurf als Gesetz sanktioniert wird, dem die zurzeit vorhandene 
Volksvertretung nicht zustimmen würde, was als ein grundsätzlicher Widerspruch zum 
konstitutionellen Prinzip erscheint.? 
8. 111. 
Das Verordnungsrecht.“ 
A) Während die gesetzgebende Gewalt gemäß Art. 62 der Verfassungsurkunde 
durch den König und die beiden Kammern gemeinschaftlich ausgeübt wird, besteht — ohne 
Mitwirkung der Kammern — das Recht des Königs zum Erlaß von Verordnungen. 
  
1 In der Sitz. Per. 1852—53 hatte die 2. K. 
einen Gesetzentwurf angenommen, welcher in be- 
treff der von der Staatsregierung eingebrachten 
Gesetzvorlagen das Prinzip der Kontinnität 
aussprach. Dieser Gesetzentwurf wurde indes von 
der 1. K. verworfen (vgl. Drucks. der 2. K. 1852 
—53, Nr. 227 u. 273 und Drucks. der 1. K. 
1852—53, Nr. 352 u. 382, desgl. Stenogr. Ber. 
der 2. K. 1852—53, S. 1072—80, und Stenogr. 
Ber. der 1. K. 1852— 53, S. 997—1004). Der 
hiernach (von der 1. K.) anerkannte Grundsatz 
der Diskontinuität der Verhandlung und Be- 
schlüsse der verschiedenen Sitzungsperioden der 
Kammern ist insbesondere auch von dem Abge- 
ordneten Stahl (s. Stenogr. Ber. der 1. K. 1852 
—53, S. 1001—3) verteidigt und in seiner staats- 
rechtlichen Bedeutung zutreffend erörtert worden; 
derselbe wies ganz richtig darauf hin, „daß 
es ein allgemeines Europäisches Rechtsbewußtsein 
und eine Europäische Gewöhnung sei, daß mit 
der Schließung der Kammern alle ihre 
nicht völlig beendigten Arbeiten expi- 
rieren“. Vgl. oben, desgl. G. Meyer-Anschütz, 
S. 240. Uber die Streitfrage, ob die im Falle 
einer Auflösung des Abgeordnetenhauses in Ge- 
mäßheit des Art. 77, Abs. 3 der Verf. Urk. er- 
folgte Vertagung des Herrenhauses die 
Kontinuität der Beratungen und Beschlüsse dieser 
Körperschaft unterbricht oder nicht, vgl. oben. 
2 Vgl. hierüber G. Meyer-Anschütz, St. R., 
S. 560 ff.; Laband, St. R.ö, II, S. 35 f., sowie 
in der D. Juristen-3. 1904, S. 321 ff.; Arndt, 
  
Verf. Urk., S. 260 f.; Boruhak ?, I, S. 530, sowie 
die Dissertationen von Kleine (1905) u. Scheibke 
(1909); Pabst, Die Sanktions= und Publikations= 
frist (1909). Im Reichstag wurde die Frage 
1904 verhandelt und der Reichstag forderte durch 
eine Resolution gesetzliche Regelung dahin, daß 
die Sanktion bis zum Zusammentritt eines neu 
gewählten Reichstages zu erfolgen habe (Stenogr. 
Ber. 1904, S. 2022 ff.). Dazu Giese, Das 
katholische Ordenswesen, in Hirths Annalen 1908, 
S. 25, Anm. 6. 
s Vg l. Zöpfl, Grunds. des allgem. u. D. St. R., 
4. Auk.) Bd. II, S. 604 ff.; Zachariä, D. St. 
und B. R., 3. Ausg., Bd. II, S. 168 ff.; Blunt- 
schli, A. St. R.2, Bd. I, S. 456 ff., Bd. II, 
S. 106 ff.; v. Mohl, St. R., Völkerrecht und 
Politik, Bd. II, S. 628 ff.; Held, System des 
Verf. R., Bd. II, S. 60; Stahl, Philosophie des 
Rechts, 3. Aufl., Bd. II, Abt. 2, S. 385 ff.; 
v. Gerber, Grundzüge 3, S. 152 ff.; Gneist, 
Verwaltung, Justiz u. Rechtsweg, 1868, S. 62 ff.; 
G. Meyer-Anschütz, S. 563, N. 7, S. 570 ff., 
vollständige Literaturangabe N. 4 u. 5; Born- 
hak?, I, S. 461 ff.; Rosin, Pol. V. R., bes. 
§§. 5, 6. Arndt, Verordnungsrecht, 1884; ders., 
Das selbständige Verordnungsrecht, 1902; Hub- 
rich in Hirths Annalen des D. RN. 1904, 770, 
801, 911; ders., Das Reichsgericht über den Ge- 
setzes- und Verordnungsbegriff, 1905; Kahn, 
Die Abgrenzung des Gesetzgebungs- und Ver- 
ordnungsrechts, 1912. Bat. auch die Literatur- 
übersicht oben 8 109, S. 1, Anm. 1. 
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