Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

Prüfung der Rechtsgültigkeit der Gesetze und Verordnungen. (§. 116.) 57 
als richtig anzuerkennende Ansicht der großen Mehrzahl der deutschen Staatsrechtslehrer ist auch 
entscheidend für die Frage des richterlichen Prüfungsrechtes hinsichtlich der Reichsgesetze und Reichs- 
verordnungen. Die Gerichtshöfe sind daher bei der Anwendung des Gesetzes auf die zu ihrer Ent- 
scheidung gelangenden Streitsachen, wenn es sich um die Anwendung eines Reichsgesetzes oder einer 
Reichsverordnung handelt, berufen, zu prüfen: a) ob ein Reichsgesetz verfassungsmäßig entstanden, 
und b) ob eine Reichsverordnung gesetzmäßig ist. Sie sind mithin so berechtigt als verpflichtet, 
nicht bloß die Frage der gehörigen Verkündigung und der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, son- 
dern auch die Frage zu prüfen, ob das Reichsgesetz, um dessen Anwendung es sich handelt, die 
Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages erhalten hat, und ob es, wenn einer der Fälle 
vorliegt, in welchen die einfache Mehrheit der Stimmen im Bundesrate nicht ausreicht, von diesem 
in derjenigen Form und mit derjenigen Stimmenmehrheit genehmigt worden ist, welche die Reichs- 
verfassung für diesen Fall vorgeschrieben hat. Wo es sich aber um die Anwendung einer Reichs- 
verordnung handelt, sind die Gerichte nicht nur berechtigt, zu prüfen, ob dieselbe von der zu 
deren Erlaß zuständigen Instanz ergangen ist, sondern auch, ob sie die einer Reichsverordnung ge- 
zogenen Grenzen innehält und ob sie mit den Reichsgesetzen bzw. der Reichsverfassung im Ein- 
klange steht, also ob sie gesetzmäßig ist. Die Gerichte sind aber ferner auch berechtigt, im gegebenen 
Falle zu untersuchen, ob ein Reichsgesetz einen materiell verfassungsmäßigen Inhalt hat. Aus 
der Bestimmung des Art. 2 der Reichsverfassung, daß „das Reich das Recht der Gesetzgebung nach 
Maßgabe des Inhalts der Reichsverfassung ausübt“, ergibt sich nämlich selbstredend, daß 
jedes Reichsgesetz mit der Reichsverfassung in Ubereinstimmung stehen muß. Ee ist daher er stlich 
erforderlich, daß das Gesetz in den von der Reichsverfassung vorgeschriebenen Formen und innerhalb 
der Befugnisse (Zuständigkeit) des Reiches erlassen ist; denn anderen Falles ist es kein Gesetz „nach 
Maßgabe des Inhaltes der Reichsverfassung“, sondern ein Gesetz unter Abänderung, sonst aber unter 
Verletzung derselben. Als zweites Erfordernis tritt die gehörige Verkündigung unter der Gegen- 
zeichnung des Reichskanzlers hinzu; denn da, wo diese Voraussetzung fehlt, besitzt das Gesetz, zufolge 
des zweiten Satzes des Art. 2 der Reichsverfassung, keine „verbindliche Kraft“. Die bloße Ver- 
kündigung eines Gesetzes kann die Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages nicht ersetzen; 
  
  
Reyscher, Zeitschr. für D. R., Bd. II, S. 166; 
Puchta, Pandekten, Bd. 1, §. 15; Windscheid, 
Pandekten, 4. Aufl., Bd. 1I, §. 14; Stobbe, 
Handb. des D. Privatr., Bd. I, §. 18; Beseler, 
System des gem. D. Privatr., 3. Aufl., Bd. 1, 
§. 19; Bluntschli, Allgem. St. R., 2. Ausg., 
Bd. I. S. 488 ff.; R. v. Mohl, Krit. Zeitschr. 
für Rechtswissensch. u. Gesetzgeb. des Auslandes, 
Bd. XXIV, S. 117 ff. und Staatsr., Völkerr. u. 
Politik, Bd. I, S. 66 ff.G G. A. Zachariä, D. St. 
u. B. R., 3. Aufl., Bd. II, §. 175, S. 243 ff.; 
v. Gerber, Grundzüge des D. St. R., 3. Aufl., 
S. 159 ff.; v. Schulze, Pr. St. R.2, Bd. II, 
S. 39 ff.; G. Meyer, Lehrb. des D. St. R., 
§. 173; Vollert, Zeitschr. für die ges. Staats- 
wissenschaft, Bd. X, S. 586 ff.; Gneist, in dem 
Gutachten für den vierten D. Juristentag auch 
unter dem Separattitel: „Soll der Richter auch 
über die Frage zu befinden haben, ob ein Gesetz 
verfassungsmäßig zustande gekommen“, 1863.— 
Auf Grund dieses Gutachtens und der Gutachten 
der beiden anderen Referenten (v. Stubenrauch 
und Jaques) hat der vierte D. Juristentag (in 
seiner Sitz. v. 35. Aug. 1863) folgende Beschlüsse 
gefaßt: a) Der Richter hat im gegebenen Falle 
über das verfassungsmäßige Zustandekommen 
der Gesetze und Verordnungen zu entscheiden. 
b) Der Richter hat ein Gesetz nur insoweit zur 
Anwendung zu bringen, als sein Inhalt die Zu- 
stimmung der verfassungsmäßigen Stände erhalten 
hat. c) Dringend zu wünschen ist, daß, sofern 
Zweifel über diese Zustimmung entstehen, end- 
gültig ein unabhängiger Kassationshof auf An- 
trag eines bei dem Prozesse Beteiligten oder der 
Staatsbehörde über die Frage zu b zu entscheiden 
hat. d) Werden Verfassungen oder Wahlgesetze 
durch einen Akt der Staatsregierung einseitig ge- 
ändert und auf Grund dieser Anderungen mit 
Zustimmung der hiernach zusammengesetzten 
Stände Gesetze erlassen, so sollte jeder Beteiligte 
  
das Recht haben, gegen solche Gesetze ein unab- 
hängiges Reichsgericht anzugehen, welches über 
die Anwendbarkeit der betreffenden Gesetze zu 
entscheiden hat (vgl. die Verhandl. des vierten 
D. Juristentages von 1863, Bd. II, S. 11—69). 
Gegen diese Beschlüsse hat sich Martin in der 
Schrift: „Der Umfang des landesrichterlichen 
Prüfungsrechtes hinsichtlich des Entstehens gültiger 
Gesetze und Verordnungen in den konstitutionellen 
deutschen Bundesstaaten“, 1865, ausgesprochen. 
(Vgl. die Kritik dieser Schrift in der Preuß. An- 
waltszeit., Jahrg. 1865, S. 732 ff.) Eine Wider- 
legung dieser Schrift gibt G. Planck, Die ver- 
bindliche Kraft der auf nicht verfassungsmäßigem 
Wege entstandenen Gesetze und Verordnungen 
(in den Jahrb. für die Dogmatik des heutigen 
Röm. u. D. Privatr., Bd. IX, S. 288 ff.). Der 
D.m Juristentag hatte bereits in seiner Sitz. vom 
30. Aug. 1862 mit großer Mehrheit folgenden 
Grundsatz ausgesprochen: „Verordnungen und 
Erlasse des Staatsoberhaupts oder der Staats- 
regierung, deren Inhalt nur in Form eines Ge- 
setzes mit Zustimmung der Stände hätte aufge- 
stellt werden können, haben für den Nichter keine 
verbindliche Kraft“, vgl. D. Gerichtszeit., Jahrg. 
1862, S. 207. Vgl. über die Frage auch: 
Schaffrath, Gehört auch die Verfassungsmäßig- 
keit von Gesetzen zum Bereiche der richterlichen 
Entscheidung? 1863, und die Gegenschrift von 
Beschorner, Die Beurteilung der Verfassungs- 
mäßigkeit von Gesetzen gehört nicht zum Bereiche 
der richterlichen Entscheidung, 1863. Vgl. auch 
Mittermaier im Arch. für zivil. Praxis, Bd. XII, 
S. 406 ff., Bd. XVII, S. 306 ff. Eine Ubersicht 
der Dogmengeschichte über die Frage gibt die 
Abhandl. von Bischof in der Zeitschr. für Zivilr. 
u. Proz., Bd. XVI, S. 245 ff., 385 ff., und eine 
Kritik der älteren Literatur über die Frage 
E. v. Stockmar; ebenda, N. F., Bd. X, S. 18 ff., 
213 ff.
	        
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