Die besonderen Garantien der Verfassung. (§. 117.) 65
A) Der Verfassungseid.
I. Obgleich die Verfassung als Grundgesetz des Staates schon an und für sich
für den Herrscher verbindlich und ihre Beobachtung Herrscherpflicht ist 2, wird dennoch
das feierliche, eidliche Gelöbnis, daß er die Verfassung des Landes anerkenne, sie er-
halten und in Ubereinstimmung mit ihr regieren wolle, mit Recht für eine wichtige Ga-
rantie der Verfassung erachtet. Die meisten deutschen Verfassungen enthalten daher die
Bestimmung, daß der Herrscher bei Antritt der Regierung und der Regent bei Uber-
nahme der Regentschaft zur feierlichen Anerkennung der Verfassung verpflichtet sein solle.
Die preußische Verfassungsurkunde erfordert gleichfalls die Beschwörung der Verfassung
durch den König. Art. 54 bestimmt, daß der König in Gegenwart der vereinigten Kam-
mern das eidliche Gelöbnis zu leisten hat, „die Verfassung des Königreiches fest und
unverbrüchlich zu halten und in Ubereinstimmung mit derselben und den Gesetzen zu
regieren“". Ebenso schreibt Art. 58 für den Fall einer Regentschaft vor, daß der
Regent nach Einrichtung einer Regentschaft verbunden ist, ebendiesen Eid zu leisten.“
Die Verfassungsurkunde hat zwar nicht ausdrücklich vorgeschrieben, zu welcher Zeit der
Nachfolger in der Regierung verpflichtet ist, den in Art. 54 vorgeschriebenen Eid zu
leisten; allein aus der Natur der Sache und dem Zuecke dieser verfassungsmäßigen
Garantie ergibt sich von selbst, daß dies sobald als möglich nach dem Regierungsantritt
geschehen muß.)
Was dagegen den im Falle einer Regentschaft von dem Regenten
1 Vgl. Zachariä, D. St. u. B. R., 3. Aufl.,
Bd. I, S. 298 ff.; Held, System des Verf. N.,
Bd. II, S. 107 (gegen die Zweckmäßigkeit der
politischen Eidel; Stahl, Philosophie des Rechts,
3. Aufl., Bd. II, Abt. 2, S. 296 ff.; Bornhak,
St. R. 2, I, S. 191 ff.; v. Schulze, Bd. I,
S. 195 ff.
2 Das neuere Staatsrecht hat den römischen
Grundsatz, daß der Monarch nicht durch die
Gesetze gebunden sei, entschieden verworfen und
in der nicht mehr absoluten Monarchie den ent-
gegengesetzten Grundsatz, daß der Monarch die
Verfassung und die Gesetze zu achten verpflichtet
sei, allgemein anerkannt, indem die germanische
Rechtsanschauung, daß das Staatsoberhaupt,
welches an der Spitze der Rechtsordnung steht,
von dieser gehalten werde und daß seine Macht
selber auf dem Rechte beruhe, daher auch das
Recht wahren müsse, den Sieg über die römische
der absoluten Herrschergewalt erlangt hat (ovgl.
Bluntschli, Allg. St. R., 2. Aufl., Bd. II,
Buch 6, Kap. 13, S. 76).
s Der Brauch, die Verfassung durch den Eid
des Regenten zu verbürgen, findet sich schon im
Altertum (vgl. darüber Schmitthenners Grund-
linien des allgem. Staatsrechtes, S. 421, Note 3).
Auch das deutsche Staatsrecht hat von jeher die
Beschwörung oder doch die feierliche Versicherung
der Verfassungstreue durch den Herrscher als ein
notwendiges Schutzmittel der Landesfreiheiten
und Verträge angesehen, niemals aber in dem
Sinne, daß das alte Recht erst dadurch Kraft
erhalte, daß es in dieser Weise bestätigt werde.
Vgl. das Nähere hierüber in Zachariäs D. St.
und B. R., 3. Aufl., Bd. 1, S. 298 ff., und in
Mosers Von der Reichsstände Landen, S. 1158,
welcher bemerkt: „Ein jeder Regent in der ganzen
Welt, besonders in Europa und namentlich in
Teutschland, ist schuldig, seine Untertanen bei
ihren rechtmäßigen Freiheiten zulassen, zu erhalten
und zu schützen. Wenn also auch gleich ein
Landesherr seinen Landständen und Untertanen
v. Rönne-Zorn, Preuß. Staatsrecht.
5. Aufl. III.
ihre Freiheit weder münd= noch schriftlich be-
stätigte, wäre er dennoch zu derselben un-
verbrüchlichen Vesthaltung eben so wohl
auf das kräftigste verbunden, als wenn er
die feierlichste Bestätigungsurkunde ausgestellt
hätte. Wie nun hinwiederum die Untertanen
ihrem Landesherren zur Treue und Gehorsam
verbunden seynd, wann sie denselben auch gleich
noch zur Zeit, oder auch gar nicht gehuldigt hätten:
die Landesherren aber sich damit nicht zu genügen
pflegen, sondern eine ausdrückliche Verpflichtung
dazu mittelst der Huldigung verlangen, eben so
können auch die Landstände und Untertanen eine
ausdrückliche landesherrliche Versicher= und Be-
stättigung ihrer Freiheiten begehren.“
4 Vgl. die betreffenden Bestimmungen der
neueren deutschen Verfassungen in Zachariäs
D. St. u. B. R., 3. Aufl., Bd. I, S. 300, Note 5,
und in Zöpfls Grundsätzen des gem. D. St. N.,
5. Aufl., Bd. I, S. 745 ff. und S. 764 ff. — Vgl.
auch Held, System des Verf. R., Bd. II, S. 168
—275 und Grotefend, Das D. St. R. der
Gegenwart, S. 394.
5 Vgl. oben Bd. I, S. 225 ff.; Schwartz;
Verf. Urk., S. 156 f. Art. 119 der Verf. Urk.
hatte (unter den Übergangsbestimmungen) festge-
setzt, daß das in Art. 54 erwähnte eidliche Ge-
löbnis des Königs sogleich nach Vollendung der
in der Verf. Urk. v. 5. Dez. 1848 vorbehaltenen
Revision der Verfassung erfolgen solle; demge-
mäß hat der König am 6. Febr. 1850 in Gegen-
wart der vereinigten Kammern den Verfassungs-
eid abgeleistet. Uber das hierbei und nach der
Thronbesteigung des Königs Wilhelm I. und seiner
Nachfolger bei dem Akte der Eidesleistung beob-
achtete Verfahren vgl. Bd. I, § 14.
Vgl. Bd. I, S. 238.
7* Vgl. Bd. l, S. 226f f. — Jedenfalls ist es ein
Mangel der Verf. Urk., daß sie über den Zeitpunkt
der Ableistung des landesfürstlichen Verfassungs-
eides keine ausdrückliche Bestimmung ausgenommen
hat; indes kann nicht bezweifelt werden, daß es
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