XI. Buch. Das Kunstgewerbe. 67
sehen in den Vordergrund stellte. Es begann für Europa und Amerika die Zeit des
sog. Japonismus, wo Museen und Private ihre Sammlungen mit den Schätzen des
Ostens, zunächst allerdings meist mit japanischen füllten und den nach Neuem hungernden
Künstlern und Fabrikanten von hier aus den Segen bis dahin noch nicht verwendeter
Motive mitteilten. Der größte und nachhaltigste Einfluß wurde hierbei auf die Reklame-
und Zllustrationskunst ausgeübt, die sich die japanischen Farbenholzschnitte zum Vor-
bilde nahm. Auch die Keramik wurde befruchtet, überall da aber, wo es sich um die
Verzierung von Flächen handelte, mußten dem in seiner Phantasie erschöpften Muster-
zeichner die naturalistischen Formen des japanischen Dekors wie ein Geschenk des Him-
mels in den Schoß fallen, von dem er voll Dankbarkeit den ausgiebigsten Gebrauch
machte.
War man jedoch hiermit von der Verwendung der historischen Stilformen einmal
abgewichen, so war es naheliegend, deren Ezistenzberechtigung überhaupt kritisch zu
untersuchen. Schon die englische Entwicklung hatte darauf hingewiesen, daß die For-
mengebung und Zweckerfüllung voneinander unabhängig seien, daß also
das Bedürfnis des täglichen Lebens, nicht aber eine Mode das Aussehen der zu seiner
Befriedigung erforderlichen Erzeugnisse bestimmen müsse. Wenn man also sah, wie der
hochentwickelte Mensch des 19. Jahrhunderts sich in einer Umgebung bewegte, die in
technischer Beziehung sich täglich vervollkommnete, im Außeren aber das verstaubte
Antlitz längst vergangener Zeiten zeigte, so mußte dies wie eine Maskerade anmuten,
besonders wenn die billige Ausführung gar zu sehr zutage lag. Was Wunder also, wenn
man auf den Gedanken kam, die hbistorischen Formen als überflüssigen Ballast überhaupt
über Bord zu werfen und an die Erfindung einer ganz neuen Formensprache zu gehen.
Dichter und Denker predigten allenthalben die Freiheit des Zndividuums und die Los-
lösung von der Tradition, so war es nur die logische Schlußfolgerung eines an sich rich
tigen Gedankenganges, wenn man für die Umgebung des modernen Mencschen einen
entsprechenden persönlichen Ausdruck suchen zu müssen glaubte. Es mußte das um so
überzeugender sein, als man in der Verwendung der alten Formen die alleinige Ursache
für die Geringwertigkeit der modernen Erzeugnisse zu erblicken meinte.
Van de Velde. Für Deutschland wurde das Signal zu einer Bewegung
in diesem Sinne von Belgien aus gegeben. Dort hatte
der geistreiche van de Belde diese Gedanken mit einer bewunderungswürdigen Schärfe
zu Ende gedacht und wirkte mit Wort und Schrift für ihre Verbreitung. Er ließ es je-
doch nicht bei bloßen theoretischen Erörterungen sein Bewenden haben, sondern ent-
warf im Verein mit Gesinnungsgenossen eine Reihe von Innenräumen, Möbeln und Ge-
brauchsgegenständen, bei denen er mit Absicht eine Anlehnung an alles Herkömmliche
vermied. Er gab jedem Körper eine vom Ablichen abweichende Gestalt, bildete jede
Fläche besonders aus, und um nicht einmal die natürlichen geraden Begrenzungen
bestehen zu lassen, ließ er alle Linien in geistreich ausgeklügelten Kurven schwingen.
Er glaubte wie Robespierre, daß man, um eine neue Ordnung der Dinge herbeizuführen,
die Träger der alten erst vollkommen vernichten müsse.
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