Lehr- und Lernfreiheit. (8. 133.) 251
fassungsurkunde ergangenen Gesetze und Verordnungen über das Schul= und Unterrichts-
wesen die Vorschrift des Art. 109 der Verfassungsurkunde in Wirksamkeit, daß diese
Gesetze und Verordnungen nur insoweit in Kraft verblieben sind, als sie nicht der Ver-
fassung zuwiderlaufen. Soweit dagegen die Grundsätze der Art. 20—25 zu ihrer
Verwirklichung erst noch des Erlasses weiterer gesetzlicher Bestimmungen bedürfen, sind
sie bis dahin suspendiert und es verbleibt bei den vor Erlaß der Verfassungsurkunde
ergangenen Vorschriften.
S. 133.
II. Lehr= und Lernfreiheit.
Der Satz des Art. 20 der Verfassungsurkunde: „die Wissenschaft und ihre Lehre
ist frei“ 4, soll ausdrücken, daß „die Wissenschaft und ihre Ausübung fortan keine an-
deren Schranken kennen sollen als ihre eigene Wahrheit und, insofern sie dieselbe ver-
kannten und überschritten, die Heiligkeit des Strafgesetzes“. 3 Es ist also damit nicht
nur ausgesprochen, daß die Wissenschaft als forschende frei sei — das ist an und für
sich wahr und kann nicht weiter durch die Gesetzgebung garantiert werden, weil die
Wissenschaft in folgerichtiger Untersuchung ihren eigenen Weg geht —, sondern auch,
daß sie als lehrende oder vorgetragene frei sein soll. Es darf also keine objektive
Beschränkung der Wissenschaft versucht werden, sondern jeder seine wissenschaftliche lber-
zeugung frei mitteilen und deswegen nicht im voraus belästigt werden; es wird dem
wissenschaftlichen Forscher dem wissenschaftlich strebenden Publikum gegenüber das Recht
der freien Lehre in schriftlichem und mündlichem Vortrage gesichert,
keinen vorbeugenden Maßregeln unterworfen ist,
Es soll ferner vom Staate keine Richtung der Wissenschaft be-
auch nicht bestimmt werden dürfen,
und den Strafgesetzen.
vorzugt,
so daß er dabei
sondern nur den allgemeinen Gesetzen
wie die Wissenschaft gelehrt werden und
S. 246. Anderer Meinung Anschütz a. a. O.,
S. 493 f. und die das. S. 493 angeführten Schrift-
steller.
1 Es ist unzulässig, aus der Suspension der
Art. 20—25 eine mehr oder minder diskretionäre
Machtvollkommenheit der Krone und der Unter-
richtsverwaltung, das Schul= und Unterrichts-
wesen durch Verordnungen zu regeln, herzuleiten.
Vgl. Anschütz a. a. O., S. 494 ff.
2 Vgl. hierüber auch den Ber. der Petitions-
komm. des H. der Abgeordn. v. 8. Dez. 1863, zu B
(Stenogr. Ber. des A. H. 1863—64, Anl. Bd. III,
S. 205, Aktenst. Nr. 44) und die Verhandl. dar-
über in der Sitz. v. 5. Jan. 1864 (Stenogr. Ber.
a. a. O., Bd. II, S. 592, 599).
* Anschütz, Verf. Urk., Bd. I, S. 369—378;
Max Müller, Die Lehr= und Lernfreiheit,
Züricher Beiträge zur Rechtswissenschaft, Bd
XXXVIII.
4 Die Verf. Komm. der Nat. Vers. hatte diesen
Artikel nicht ausgenommen, der Satz ist erst von
der Zentralabteilung der Nat. Vers. in überein-
stimmung mit dem Beschlusse der Deutschen Nat.
Vers. (§F. 17 der Grundrechte, §. 152 der R. V.
von 1849) in Vorschlag gebracht und dann in den
Art. 17 der oktroy. Verf. Urk. v. 5. Dez. 1848,
aus dieser unverändert in den Art. 20 der revid.
Verf. Urk. v. 31. Jan. 1850 übernommen worden.
5 So erläuterte der Min. v. Ladenberg in
der oben zitierten Denkschrift (S. 16) den Satz
mit dem Beifügen, „daß dadurch in richtiger An-
erkennung dessen, was Wissenschaft und Intelligenz
bisher dem Preuß. Staate gewesen und mehr als
je für die Zukunft bleiben muß, und zugleich in
Würdigung der Anforderungen, welche die Selbst-
ständigkeit und innere Wahrheit der Wissenschaft
an die Gewöhnungen des konstitut. Staatslebens
zu machen befugt ist, dem Interesse des Staates
und der Wissenschaft gleichmäßig Rechnung ge-
tragen werde“. — Denen gegenüber, welche (bei
der Revision der Verf. Urk.) den Artikel als eine
Phrase bezeichneten, erklärte der Minister: „Der
Artikel spreche vielmehr einen „Grundsatz“ aus,
durch welchen der Staatsverwaltung ein leitender
Maßstab gegeben werde, über den der verwaltende
Minister nicht hinausgehen dürfe, indem er da-
nach der Wissenschaft keine weiteren lähmenden
Schranken ziehen dürfe, als welche das Staats-
interesse dringend gebiete.“ Und ferner: „Der
Umstand, daß die Vergangenheit Veranlassung
darbot, daran zu zweifeln, daß Wissenschaft und
Lehre frei sei, habe es wünschenswert gemacht,
diesen Grundsatz in der Verf. Urk. auszusprechen“
(vgl. Stenogr. Ber. der 2. K. 1849—50, Bd. III,
S. 1217 und 1. K., Bd. III, S. 1039). Anschütz
a. a. O. S. 369 ff.
s Gegen dieses „Bevorzugungsverbot“ mit
beachtenswerten Gründen Anschütz a. a. O.,
S. 377 f.; er bezeichnet dieses 9— Verbot des
Art. 20 als „in sich unklar und praktisch undurch-
führbar“, als „mit dem Prinzip der Freiheit der
Wissenschaft nicht im Einklang, sondern im Wider-