Lehr= und Lernfreiheit.
(§. 133.) 253
und Redefreiheit straflos geübt werden darf unter Überschreitung der Strafgesetze, so-
wenig darf die Lehrfreiheit diese Gesetze verletzen 1, sondern es versteht sich von selbst,
daß der Mißbrauch der gewährleisteten Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre den
gesetzlich statthaften Repressivmaßregeln und Strafen unterworfen bleibt.?
Hieraus folgt
weiter, daß es der gesetzlichen Regelung des Unterrichtswesens (Art. 26 der Verfassungs-
urkunde) unbenommen sein muß, solche Bestimmungen zu treffen, welche gegen den Miß-
brauch des in Art. 20 gewährleisteten Rechts erforderlich sind. 3 7
1 Mit Recht bemerken die Erläuter. des Min.
v. Ladenberg (S. 17): „Unter dem Vorwande
der Wissenschaft darf gegen die höchsten Interessen
und Rechte der Menschheit und des Staates ebenso-
wenig gefrevelt werden wie durch die freigegebene
Rede und Presse.“ Vgl. hierüber auch Blunt-
schli, Allgem. St. R., 5. Aufl., Bd. II, S. 333ff.;
Richter-Dove-Kahl, Lehrbuch des Kirchenrechts,
§. 298; Zachariä, D. St. u. B. R., 3. Aufl.,
Rd. II, §. 199, Note 6.
2 Art. 20 sagt zwar nicht ausdrücklich, daß der
Mißbrauch des darin garantierten Rechtes den
allgemeinen und Strafgesetzen unterliegen solle;
indes versteht sich dies hier, wie bei jedem anderen
Grundrecht (z. B. der Preßfreiheit, dem Vereins-
und Versammlungsrecht usw.) von selbst. Als
daher die 1. K. bei der Revision des Art. 20 (auf
den Antrag des Abgeordn. v. Vincke-Olben-
dorff) den Zusatz angenommen hatte: „Die
Bestimmungen gegen den Mißbrauch dieser Frei-
heit enthält das Unterrichtsgesetz“, lehnte die 2. K.
es mit Recht ab, diesem Beschlusse beizutreten,
indem angenommen wurde, daß das (nach Art. 26)
zu erlassende Unterrichtsgesetz der künftigen Gesetz-
gebung gegenüber jedem wirklichen Mißbrauch
der Lehrfreiheit hinreichende Kraft und Befugnis
verleihen werde und daß Art. 20 nur dahin zu
verstehen sei, daß der Wissenschaft und ihrer Lehre
keine andern Schranken gezogen sein sollten als
solche, die sich in eine für Alle gleichmäßig geltende
und nur auf dem offenen Wege der Gesetzgebung
zu ermittelnde Regel fassen lassen. Der Gedanke
des in Rede stehenden Zusatzes sei daher schon
in dem Art. 26 enthalten und hier überflüssig
(vgl. Stenogr. Ber. der 1. K. 1849—50, Bd. III,
S. 1040 und der 2. K., Bd. III, S. 1195 ff.;
s. v. Rönne, Verf. Urk., S. 48—49).
3 Dies ist auch bei der Revision des Art. 20
ausdrücklich anerkannt worden (ogl. die vorige
Note). Nur versteht sich von selbst, daß die der
Gesetzgebung offen gelassenen Bestimmungen gegen
den Mißbrauch des im Art. 20 garantierten Rechtes
nicht von solchem Inhalt sein dürfen, daß sie zur
Vernichtung desselben führen. Es dürfen also
keine Präventivmaßregeln angeordnet werden,
so wenig wie die Preßfreiheit durch Einführung
der Zenfur beschränkt werden darf, sondern die
Bestimmungen dürfen nur repressiver Natur
sein. Daß alle Verbrechen oder Vergehen, welche
durch Mißbrauch jenes Rechtes verübt werden,
den allgemeinen Strafgesetzen unterliegen, ver-
steht sich ohnehin von selbst. Vgl. hierüber auch
die Motive des zu diesem Artikel in der 2. K.
von dem Abgeordn. Grafen Cieszkowsky ge-
stellten Verbess.-Antrages in den Stenogr. Ber.
der 2. K. 1849—50, Bd. III, S. 1222.
4 Hinsichtlich der Suspension des Art. 20
vertrat v. Rönne in der 4. Aufl. dieses Werkes
(Bd. II, S. 454) folgende Auffassung: Es könne
nicht angenommen werden, daß Art. 20 zu den.
nach Art. 112 ·einstweilen noch suspendierten Artikeln
gehöre; denn der Grundsatz der Freiheit der Wissen-
schaft und ihrer Lehre sei ein solcher, dem kein
ihn ausschließendes, noch in Kraft stehendes Gesetz
entgegenstehe; es würde daher schon jetzt eine
Verletzung des Art. 20 sein, wenn sein Grund-
satz durch Verwaltungsmaßregeln verkümmert
oder aufgehoben werden wollte. Mit Recht —
führte v. Rönne weiter (S. 454, Note 2) aus —.
habe daher der Abgeordn. Kisker schon bei der
Beratung des Art. 112 der Verf. Urk. darauf hin-
gewiesen, daß die Gültigkeit des Grundsatzes des
Art. 20 durch die Ubergangsbestimmung des
Art. 112 nicht berührt werde, daß die Regierung
selbst gewiß nicht der Ansicht sein werde, daß
Art. 20 nicht jetzt schon zur Anwendung kommen
müsse (vgl. Stenogr. Ber. der 1. K. 1849—50,
Bd. IV, S. 1969). Hiergegen wendet sich An-
schütz a. a. O., S. 371f., der aber damit nicht
behauptet, daß Art. 20 vollständig suspendiert sei.
Vielmehr nimmt Art. 20 in der Reihe der Art.
20—25 eine Sonderstellung ein, indem er nicht
lediglich von „Schul= und Unterrichtswesen“ — auf
welches allein sich die Suspension bezieht — handelt,
sondern auch andersartige Gebiete erfaßt. Dem-
gemäß muß meist unterschieden werden. Art. 20 ist
vollgültige Norm, d. h. aktuell anwendbar und
anwendungspflichtig, soweit die Wissenschaft und
ihre Lehre außer Zusammenhang steht mit dem
Schul= und Unterrichtswesen (näheres bei An-
schütz S. 372—374); auf andere Tätigkeiten
und Verhältnisse ist Art. 20 an sich anwendbar,
doch sind sie seiner Herrschaft durch die Suspen-
sionsklausel zurzeit entzogen; hierhin gehören alle
wissenschaftlichen Tätigkeiten, welche unter den
Begriff der Lehrtätigkeit i. e. S. des privaten oder
öffentlichen Unterrichts fallen (Anschütz S. 374
—377); auf andere Tätigkeiten endlich findet
Art. 20 überhaupt keine Anwendung, obgleich
dies bisweilen behauptet wird; solche Behauptungen
sind z. B., daß Art. 20 auch der Kirche verbiete,
die Wissenschaft und ihre Lehre zu beeinflussen,
daß der Staatsregierung verboten sei, bestimmte
wissenschaftliche „Richtungen“" oder „Lehrmei-
nungen“ vorzuziehen, daß mit dem Artikel das
Verbot des Besuchs fremder Universitäten unver-
einbar sei (Anschütz S. 377—378).