272. Unterrichtswesen. (§. 137.)
II. In betreff der Organisation der Volksschulen spricht die Verfassungsurkunde
im ersten Satze des Art. 24 den Grundsatz aus, daß „bei deren Einrichtung die kon-
fessionellen Verhältnisse möglichst zu berücksichtigen sind.
Hierdurch und durch den sich daran reihenden Satz, daß „die betreffenden Religions-
gesellschaften den religiösen Unterricht in der Volksschule leiten“, ist staatsgrundgesetzlich
festgestellt, daß der Religionsunterricht? der Volksschule nicht entzogen werden kann.
Die Verfassungsurkunde geht von der Auffassung aus, daß die Volksschule nicht einem
abgesonderten Gebiete des öffentlichen und geistigen Lebens, also etwa dem Staate oder
der Kirche, angehört, sondern daß sie eine Vertreterin und Ergänzung der Familie
ist, daher auch allen den geistigen und sittlichen Richtungen vollständig Rechnung tragen
muß, welche sich in den Familien und deren größerer Gesamtheit, der Gemeinde, als
berechtigt geltend machen und anzuerkennen sind. Hierzu ist auch das religiöse Leben
zu rechnen. Deshalb erachtet die Verfassungsurkunde es für das Bestehen der öffent-
lichen Volksschulen notwendig, für ihre gedeihliche, das gesamte Volk umfassende Wirksam-
keit unerläßlich und der Sitte des Volkes entsprechend, den Religionsunterricht 3 der Volks-
schule zu belassen."
punkten enthalten das Zuständigkeitsges. v. 1. Aug.
1883, S§. 45—49, und das Gesetz betr. die Fest-
stellung von Anforderungen für Volksschulen v.
26. Mai 1887. Das V. U. G. berührt die Materie
der staatlichen Schulaufsicht gar nicht.
1 Dieser Satz war weder in der oktroy. Verf.
Urk. v. 5. Dez. 1848 noch in einem der früheren
Entwürfe enthalten; er ist erst bei der Revision
in die Verf. Urk. aufsgenommen worden. Dies
wurde zuerst von der 1. K. (auf den Antrag des
Abgeordn. Brüggemann) beschlossen und die
2. K.hat sich demnächst hiermit einverstanden erklärt
(vgl. v. Rönne, Verf. Urk., Art. 24, S. 54—56;
Anschütz, Verf. Urk. I, S. 431 ff.).
2 Haller, Die Aufgabe des Staats und der
Kirche bezüglich des Neligionsunterrichts in der
deutschen Volksschule, 1900; W. Kahl, Die
missio canonica zum Religionsunterricht in
Preußen, Disfs., 1907.
s über die Erteilung des katholischen Reli—
gionsunterrichtes in den Volksschulen und über
die in dieser Beziehung zu beachtenden Gesichts-
punkte vgl. den Min. Erl. v. 18. Febr. 1876 (M.
Bl. d. i. Verw. 1876, S. 68 ff.).
schulplanmäßige Religionsunterricht in der Volks-
schule von den vom Staate dazu berufenen oder
zugelassenen Organen unter seiner Aufsicht erteilt
werden. Die Erteilung dieses Unterrichtes liegt
in erster Linie den an der Schule angestellten
Lehrern und Lehrerinnen ob, welche in der vor-
geschriebenen Prüfung die Befähigung dafür nach-
gewiesen haben. Dasselbe gilt auch von den-
jenigen Geistlichen, welche gleichzeitig als Lehrer
an den Volksschulen angestellt sind. An Orten
mit konfessionell gemischter Bevölkerung, in wel-
chen ein katholischer Lehrer nicht vorhanden ist,
kann der gesamte Religionsunterricht, wenn es
bisher so üblich war, dem Geistlichen auch ferner
belassen werden, ausgenommen, wenn ihm die
Kreis= oder Lokalschulinspektion hat entzogen oder
wenn er von der Leitung des schulplanmäßigen
Religionsunterrichtes hat ausgeschlossen werden
müssen. In den Fällen, wo es an einem vor-
schriftsmäßig geprüften Lehrer mangelt, soll die
Regierung bestimmen, wem die Erteilung des
Religionsunterrichtes in der Schule zustehen soll,
insbesondere, ob dazu der Verwalter der Stelle
Danach soll der
oder ein Geistlicher aushilfsweise zu wählen sei.
Der Min. Erl. v. 28. Juni 1877 (M. Bl. d. i. Verw.
1877, S. 252) hat diese Anordnungen gegen die
darüber erhobenen Beschwerden aufrecht erhalten.
Den dagegen von dem Abgeordn. Reichen-
sperger in seinem Antrage v. 15. Jan. 1877
(Stenogr. Ber. des A. H. 1877, Anl. Bd. Nr. 11,
S. 42) erhobenen Einspruch hat das A. H. in der
Sitz. v. 24. Jan. 1877 (Stenogr. Ber. a. a. O.,
Bd. I. S. 73—97) durch Übergang zur einfachen
Tagesordnung erledigt. — Für den evange-
lischen Religionsunterricht in den Volksschulen
#gl. den Min. Erl. v. 21. Jan. 1880 (3Z. U. V.
1880, S. 227). Danach sollen die Gesichtspunkte,
welche in dem vorgedachten Erlaß v. 18. Febr.
1876 für die Erteilung, Leitung und Beauf-
sichtigung des katholischen Religionsunterrichts in
den Volksschulen aufgestellt worden sind, auch in
bezug auf den evangelischen Religionsunterricht
daselbst zur Anwendung gebracht werden.
4 Die Verf. Komm. der Nat. Vers. hatte in
ihren Entwurf keine weitere Bestimmung über
das Verhältnis der Schule zur Kirche aufge-
nommen, als (im Art. 24) die völlige Ausschließung
jeder kirchlichen Aufsicht über die Volksschule. Die
Motive ergeben indes, daß die Mehrheit der Mit-
glieder der Verf. Komm. sich der Ansicht zuneigte,
daß der Religionsunterricht gänzlich von der
Volksschule auszuschließen und den Religions-
gesellschaften zu überlassen sei. Da die Beauf-
sichtigung der Kirche über die Schule ausdrücklich
ausgeschlossen werden sollte, so hielt die Verf.
Komm. es auch nicht für erforderlich, zu be-
stimmen, „daß die öffentlichen Volksschulen nicht
konfessionell seien“ (vgl. Rauers Protokolle der
Verf. Komm. der Nat. Vers., S. 124 und 105,
desgl. v. Rönne, Verf. Urk., S. 53, Anm. 2).
Die Zentralabt. der Nat. Vers. war entgegenge-
setzter Ansicht und erklärte sich dafür, der Volks-
schule den Religionsunterricht zu belassen, wes-
halb sie (in dem Art. 23 ihres Entwurfs) die
(in den Art. 21, Abs. 2 der oktroy. Verf. Urk.
übergegangene) Bestimmung aufnahm, „daß die
betreffenden Religionsgesellschaften den religiösen
Unterricht in der Volksschule besorgen und über-
wachen“. Dies wurde bei der Revision der Verf.
Urk. (Art. 24, Abs. 2 der revid. Verf. Urk.) dahin