Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Zweite Abteilung. (3_2)

312 Unterrichtswesen. (8. 144.) 
1911 die allgemeine Schulpflicht dieser Kinder. Blinde Kinder, welche das sechste Lebens- 
jahr, sowie Ttaubstumme Kinder, welche das siebente Lebensjahr vollendet haben, unter- 
liegen, sofern sie genügend entwickelt und bildungsfähig erscheinen, der Verpflichtung, den 
in den Anstalten für blinde und taubstumme Kinder eingerichteten Unterricht zu besuchen. 
Bei Kindern, welche in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sind, kann der Beginn der 
Verpflichtung bis zu drei Jahren hinausgeschoben werden. Zu den taubstummen Kindern 
i. S. des Gesetzes gehören auch stumme, ertaubte und solche Kinder, deren Gehörreste so 
gering sind, daß sie die Sprache auf natürlichem Wege nicht erlernen können und die 
erlernte Sprache durchs Ohr zu verstehen nicht mehr imstande sind. Zu den blinden 
Kindern gehören auch solche, die so schwachsichtig sind, daß sie blinden Kindern gleich- 
geachtet werden müssen. Die Verpflichtung der Kinder ruht, solange für ihren Unter- 
richt in ausreichender Weise anderweit (z. B. durch Privatlehrer oder durch vertrags- 
mäßige Unterbringung in einer Anstalt) gesorgt ist (§. 1). Die Schulpflicht der blinden 
Kinder endet mit dem auf die Vollendung des 14., die der taubstummen Kinder mit 
dem auf die Vollendung des 15. Lebensjahres foigenden Jahresschulschlusse, kann aber 
erforderlichenfalls weiter ausgedehnt werden (88. 2, 9). über den Eintritt der Schul— 
pflicht beschließt in kreisfreien Städten die Schuldeputation, im übrigen nach Anhörung 
der Ortsschulbehörde die Schulaufsichtsbehörde (§. 4).1 Die Sorge für die Beschulung 
der nach dem vorigen schulpflichtigen Kinder ist den zur Fürsorge für das Blinden= und 
Taubstummenwesen überhaupt berufenen Provinzialverbänden, die ja auch die für diesen 
Unterricht eingerichteten besonderen Anstalten besitzen?, zugewiesen worden. Die Provinz 
ist zur Unterbringung dieser Kinder verpflichtet. Für die Unterbringung ist ein beson- 
deres Verfahren vorgesehen. Die schulpflichtigen Kinder müssen von dem zuständigen 
Kommunalverband (in dessen Bezirk die Eltern ihren Wohnsitz haben oder das Kind 
seinen Wohnsitz bzw. Aufenthalt hat; §. 6, Abs. 2) in einer Blinden- oder Taubstummen= 
anstalt oder an einem Orte, von welchem aus sie eine unterrichtliche Veranstaltung der 
bezeichneten Art besuchen können, untergebracht oder belassen werden (§. 6, Abs. 1). Das 
Kind ist möglichst in einer Anstalt bzw. Familie seines Bekenntnisses unterzubringen (§. 6, 
Abs. 4). Zur Uberführung des Zöglings ist der gesetzliche Vertreter des Kindes ver- 
pflichtet (S. 7). Die Entlassung der blinden und taubstummen Kinder aus der Schule 
darf nur stattfinden, wenn 1. die Schulpflicht beendet ist, 2. die Erreichung des Zweckes 
der Unterbringung in anderer Weise sichergestellt ist, 3. aus anderen Gründen die Voraus- 
setzungen für die zwangsweise Unterbringung des Kindes nicht mehr vorliegen, 4. aus 
besonderen Gründen die vorzeitige Entlassung gerechtfertigt erscheint; über die Entlassung 
befindet der Kommunalverband (§8. 10). Die erforderlichen Reglements über die Aus- 
führung des Gesetzes erlassen die Kommunalverbände (§. 13).3 
  
1 Daraufhin Beschwerde= und Beschlußverfahren 
gemäß § 5 des Gesetzes. 
2 Die Fürsorge für die Taubstummen, insbe- 
sondere die Erhaltung der Taubstummenanstalten, 
ist Sache der Provinzialkommunalbehörden. Der 
Staat tritt hierfür mit seinen Mitteln nicht unmittel- 
bar ein (Min. Erl. v. 9. Nov. 1868, M. Bl. d. i. 
Verw. 1869, S. 72), wohl aber mittelbar durch 
Dotation der Kommunalverbände (Gesetz, betr. die 
Ausführung der §§. 5 u. 6 des Ges. v. 30. April 
1873 wegen der Dotation der Provinzial= und Kreis- 
verbände v. 8. Juli 1875). Insbesondere gehört 
auch in der Provinz Hannover die Unterstützung 
der Taubstummenanstalten zu den Obliegenheiten 
des Provinzialverbandes (Ges. v. 7. März 1868, 
G. S. 1868, S. 223). Über die Verpflichtung 
des Kommunalverbandes des Reg.-Bez. Kassel 
zur Unterhaltung des für denselben bestehenden 
Taubstummeninstituts: Ges. v. 25. März 1869, 
§. 1 (G. S. 1869, S. 525). 
3 Die Provinzial-Taubstummenanstalten sind, 
  
  
soweit sie Zwecke des Unterrichts und der Erziehung 
verfolgen, der Aufsicht des Staates unterworfen. 
Speziell finden auf die für dieselben zu beschließen- 
den Reglements die Bestimmungen des §. 120 
der Prov. O. v. 29. Juni 1875 Anwendung, wo- 
nach die gedachten Reglements nur bezüglich der- 
jenigen Bestimmungen, welche sich auf die Auf- 
nahme, die Behandlung und Entlassung der 
Taubstummen, bzw. auf den Unterricht derselben 
beziehen, der Genehmigung der Min. des Inn. u. 
d. geistl. usw. Ang. unterliegen (Min. Erl. v. 
12. Jan. 1876, Z. U. V. 1876, S. 192, Nr. 85; 
M. Bl. d. i. Verw. 1876, S. 104, Nr. 105; Ges. 
v. 7. Aug. 1911, §. 13). Über Blindenanstalten 
vgl. v. Rönne, Unterrichtswes en, Bd. 1, S. 891ff. 
Über die Blindenanstalt in Hannover vgl. die 
Bekanntmachung des Min. d. Inn. v. 24. April 
1845 (G. S. für Hannover 1845, Abt. I, S. 447) 
und v. 21. Juni 1859 (a. a. O. 1859, Abt. I, 
S. 68 Lehzen, Hannovers Staatshaushalt, 
Teil II, S. 360 ff. Über die Blindenanstalt in
	        
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