374 Dritter Abschnitt. (g. 104.)
Kommunalinteressen im engeren Sinne weit hinausreichen“. Um den Rreisen eine zweck-
entsprechende Erfüllung ihrer kommunalen Aufgaben zu ermöglichen, hat zunächst ihr
Besteuerungsrecht einen systematischen Ausbau erfahren. Um die Kreise der eigentlichen
Staatsverwaltung dienstbar zu machen, hat eine umfangreiche Decentralisation der letzteren
stattgefunden; zahlreiche Angelegenheiten, welche früher durch Central-, Provinzial= und
Bezirksbehörden besorgt wurden, überträgt die Kreisordnung den Organen der Kreise.
2) Das eigentliche Organ der Kreisverwaltung ist der neugeschaffene Kreisaus-
schuß, dessen Mitglieder bis auf den Vorsitzenden nach dem Prinzip der echten Selbst-
verwaltung aus sämtlichen Einwohnern des Kreises gewählt werden. Dieser Kreisaus-
schuß hat aber noch eine weitere Aufgabe als die Regierung des Kreises, er ist gleich-
zeitig Verwaltungsgericht. Zahlreiche Verwaltungsverfügungen, über deren Recht-
mäßigkeit bisher nur die vorgesetzte Verwaltungsbehörde auf Beschwerde der Betroffenen
zu entscheiden hatte, unterwirft die Kreisordnung in weitem Umfange der richterlichen
Kognition des Kreisausschusses. Sie giebt dem einzelnen, der in seinen Rechten ver-
letzt zu sein glaubt, eine öffentliche Klage, und beruft den Kreisausschuß, welcher schon
nach seiner Zusammensetzung die Garantien eines unabhängigen Gerichtes bietet, die an-
gefochtene Verfügung in gesetzlich geregeltem Prozeßverfahren und auf Grund öffent-
licher kontradiktorischer Verhandlung lediglich auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu prüfen.
In höherer Instanz läßt sie über diese sogen. streitigen Verwaltungssachen besondere bei
den Bezirksregierungen gebildete Verwaltungsgerichte entscheiden. — Damit setzte die
Kreisordnung an Stelle der administrativen die Rechtskontrolle der Verwaltung
und legte die Grundlage für die weitere Entwickelung der Verwaltungsgerichtsbarkeit.
3) Hand in Hand mit der Erhebung der Kreise zu modernen Selbstverwaltungs-
körpern geht die Ausbildung der überwiegend ehrenamtlichen Kreisverwaltung. Wie in
den Städten seit alters die Bürger, so sollen hinfort in den Kreisen die Kreisangehörigen
in weitem Umfange zu Ehrenämtern herangezogen und zur Übernahme solcher ver-
pflichtet werden. Die Kreisordnung „will“ — so charakterisierte sie der damalige Minister
des Innern, Graf zu Eulenburg, — „die allgemeine Dienstpflicht, die auf dem mili-
tärischen Gebiete Preußen groß gemacht hat, auf das bürgerliche Gebiet übertragen. Die
allgemeine Dienstpflicht .. ist das Motto des Kreisordnungsentwurfs!“
4) Mit dem ständischen Prinzip hat die Kreisordnung definitiv gebrochen. Die
Kreisvertretung setzt sich nur aus Abgeordneten zusammen, welche von drei nach wirt-
schaftlich-socialen Rücksichten gebildeten Wahlverbänden zu wählen sind. Die gutsherr-
liche Polizei und die Erbscholtiseien, zwei Institute des alten Ständestaates, sind be-
seitigt. Die Polizei auf dem platten Lande soll hinfort nur im Namen des Königs
und zwar ehrenamtlich verwaltet werden; zu diesem Zwecke wird das ganze Land in
Polizeibezirke eingeteilt, von denen jeder eine oder mehrere Gemeinden umfaßt, und an
deren Spitze je ein Ehrenbeamter, Amtsvorsteher, steht. Die Berechtigung und Ver-
pflichtung zur Verwaltung des Schulzenamtes in einer Gemeinde ist nicht mehr an den
Besitz eines gewissen Grundstückes gebunden; die Gemeindevorsteher und Schöffen sind
nach dem Prinzip freier Selbstverwaltung von den Gemeinden zu wählen, und die Ge-
wählten haben ihre Amter als Ehrenämter zu verwalten.
Schon diese wenigen Angaben zeigen, daß die Kreisordnung viel mehr enthielt, als
ihr Name besagte, sie ordnete nicht nur die Verhältnisse der Kreise als kommunaler
Selbstverwaltungskörper; durch ihre Vorschriften über die Bestellung der Gemeinde-
vorstände, über die lokale Polizeiverwaltung und über die Bildung der Samtgemeinden
mittels Übertragung von Kommunalangelegenheiten auf die Amtsverbände griff sie un-
mittelbar oder mittelbar in die Verfassung oder Verwaltung der Ortsgemeinden ein, in
den Verwaltungsgerichten schuf sie Bezirksbehörden, und ihre Vorschriften über die Rechts-
kontrolle der Verwaltung bezeichneten einen eminenten Fortschritt in der Entwickelung
des modernen Rechtsstaates.
III. Am 1. Jan. 1874 trat die neue Kreisordnung für die fünf Provinzen
Preußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien und Sachsen in Kraft, für
Posen wurde ihre Geltung bis auf weiteres suspendiert (siehe unten S. 376). Schen
im folgenden Jahre erlitt die Kreisordnung jedoch mehrere Abänderungen durch die
Provinzialordnung v. 29. Juni und das Verwaltungsgerichtsgesetz v. 3. Juli 1875,
welch letzteres besonders die Verwaltungsgerichtsbarkeit weiter ausbildete und die dies-