Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Febr. 6. -10.) 27
fähig zum Eingreifen fand, weil es keine Truppen im Westen seines Reiches
in hinreichendem Maße hatte. Ich brauche also aus einer russischen Truppen-
anhäufung an den westlichen Provinzen (sapadni Guberni, wie die Russen
sagen) noch nicht notwendig den Schluß zu ziehen, daß damit die Intention,
uns zu überfallen, verbunden sei. Ich nehme an, daß man etwa auf eine
neue orientalische Krisis wartet, um dann in der Lage zu sein, die russischen
Wünsche mit dem vollen Gewicht einer nicht gerade in Kasan, sondern weiter
westwärts stehenden Armee geltend zu machen.
Wann eine orientalische Krisis nun eintreten kann? — Ja, darüber
haben wir keine Sicherheit. Wir haben in diesem Jahrhundert meines
Erachtens vier Krisen gehabt, wenn ich die kleineren und nicht zur vollen
Entwickelung gekommenen abrechne: eine im Jahre 1809, die mit dem Frie-
densschluß endigte, der Rußland die Pruthgrenze gab; dann 1828; dann
1854 den Krimkrieg, und 1877, — also in Etappen von ungefähr 20 Jahren
von einander entfernt und etwas darüber; warum sollte denn nun gerade
die nächste Krisis früher als etwa nach dem gleichen Zeitraum, also unge-
fähr 1899, eintreten, auch 22 Jahre später. Ich möchte wenigstens mit der
Möglichkeit rechnen, daß die Krisis hintangehalten werden kann und nicht
sofort einzutreten braucht. Außerdem gibt es auch andere europäische Ereig-
nisse, die in gleichen Perioden einzutreten pflegen. Beispielsweise polnische
Aufstände. Früher hatten wir schon alle 18—20 Jahre einen solchen zu
gewärtigen. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum Rußland so stark
sein will in Polen, um solche zu verhindern. Ebenso Wechsel der Regie-
rungen in Frankreich; sie pflegen auch alle 18—20 Jahre einzutreten, und
niemand kann leugnen, daß ein Wechsel in der Regierung Frankreichs eine
Krisis herbeiführen kann, die es jeder beteiligten Macht wünschenswert machen
muß, mit vollem Gewicht in sie eingreifen zu können — ich meine, nur auf
diplomatischem Wege, aber mit einer Diplomatie, hinter der ein schlagfertiges
und nahe bereites Heer steht. Wenn das die Absicht Rußlands ist, wie ich
rein auf Grund des technisch-diplomatischen Urteils, das ich mir nach meiner
Erfahrung bilde, viel eher vermute, als daß sie den ziemlich rüden Drohungen
und Renommagen der Zeitungen entsprechen würde, so ist für uns absolut
noch kein Grund, in unsere Zukunft schwärzer zu sehen, als wie wir es seit
40 Jahren überhaupt getan haben. Es ist ja die wahrscheinlichste Krisis,
die eintreten kann, die orientalische. Wenn sie eintritt, so sind wir bei der
gerade nicht in erster Linie beteiligt. Wir sind da vollkommen, und ohne
irgendwelcher Verpflichtung zu nahe zu treten, in der Lage, abzuwarten, daß
die im mittelländischen Meere, in der Levante, nächstbeteiligten Mächte zuerst
ihre Entschließungen treffen und, wenn sie wollen, sich mit Rußland ver-
tragen oder schlagen. Wir sind weder zu dem einen noch zu dem anderen
in erster Linie in der orientalischen Frage berufen. Jede Großmacht, die
außerhalb ihrer Interessensphäre auf die Politik der anderen Länder zu
drücken und einzuwirken sucht und die Dinge zu leiten sucht, die periklitiert
außerhalb des Gebietes, welches Gott ihr angewiesen hat, die treibt Macht-
politik und nicht Interessenpolitik, die wirtschaftet auf Prestige hin. Wir
werden das nicht tun wir werden, wenn orientalische Krisen eintreten,
bevor wir Stellung dazu nehmen, die Stellung abwarten, welche die mehr
interessierten Mächte dazu nehmen.
Es ist also kein Grund, unsere Situation im Augenblicke so ernst zu
betrachten, als ob gerade die gegenwärtige Lage der Anlaß wäre, weshalb
wir die gewaltige Vermehrung der Streitkräfte, die die Militärvorlage in
Vorschlag bringt, heute versuchen sollten. Ich möchte die Frage der Wieder-
einrichtung der Landwehr zweiten Aufgebots, kurz, die große Militärvorlage,
mit der anderen, der Finanzvorlage, ganz loslösen von der Frage, wie unsere