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möglich ist, auf schriftlichem Wege des Einverständnisses des
Kanzlers versichert zu haben. Denn auch im Urlaub behalten
der Kanzler und jedenfalls auch der Greeneralstellvertreter die Lei-
tung der Geschäfte in Händen. Die Möglichkeit des Eingriffes
muß aber rechtlich bestehen, um die unentbehrliche Einheit in
der Führung der Gesamtpolitik des Reichs zu sichern.
War die Kanzlerstellvertretung nach dem Gesetze als eine
fakultative Einrichtung, die in Fällen der Verhinderung des Kanz-
lers eintreten sollte, gedacht, so haben die Anforderungen der
praktischen Politik weiter geführt. Auch hier hat sich nach dem
Worte des römischen Juristen Modestinus!) die Notwendigkeit
als Rechtsschöpferin erwiesen.
Es hat die den Dingen innewohnende Kraft zu einer ge-
wohnheitsrechtlichen Neubildung geführt. Die Unmöglichkeit,
die Leitung der gesamten Politik eines großen Reiches bei dem
ins Ungeheure steigenden Geschäftsumfang einem einzigen ver-
antwortlichen Reichsminister aufzubürden, hat den Rahmen der
Reiehsverfassung, die nur einen Reichskanzler kennt, gesprengt ?).
Die Stellvertretung des Reichskanzlers wurde zu einer dau-
ernden Einrichtung. Die Verhinderung des Reichskanzlers wurde
durch die Praxis als ständig vorhanden anerkannt, und die Chefs
der obersten Reichsbehörden, soweit sie Stellvertretungsämter
sind, wurden regelmäßig und ohne Ausnahme zu Stellvertretern
des Reichskanzlers bestellt), und so in diesen Staatssekretären
eine Anzahl permanenter verantwortlicher Reichsminister‘) ge-
schaffen.
I) Omne ius aut consensus fecit aut necessitas constituit aut firmavit
eonsuetudo (l. 40 D. de legibus I, 3).
2) Vgl. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, Berlin 1906,
S. 27.
3) Vgl. Laband, Wandlungen der Reichsverfassung, S. 17.
4) Zorn (Das deutsche Staatsrecht, 2. Aufl., Berlin 1895, Bd. I, S. 260) be-
handelt das Stellvertretungsrecht unter der Ueberschrift: „Stellvertretungsämter (Reichs-
ministerien)“.