Full text: Die Reichsregierung.

dem verfassungsmäßigen Fehlen einer gemeinschaftlichen kollegialen 
Beratung über die Leitung der Reichspolitik. 
Dagegen wird man es nicht als eine Abweichung von der 
gewöhnlichen Ministerialverfassung bezeichnen dürfen, daß der 
Kreis der Stellvertretungsämter im Stellvertretungsgesetz nicht 
fixiert ist. Denn eine gewohnheitsrechtliche Entwicklung, die sich 
über mehr als drei Dezennien erstreckt, hat die Lücke des Ge- 
setzes ausgefüllt, so daß über den Kreis der obersten Reichs- 
behörden, deren Vorstände zu Kanzlerstellvertretern regelmäßig 
ernannt werden, eine Unklarheit nicht besteht. 
Entscheidend für die Ministerstellung der Kanzlerstellvertreter 
ist der Umstand, daß sie die volle Verantwortlichkeit des Reichs- 
kanzlers sowohl dem Bundesrat als dem Reichstag gegenüber für 
ihre Amtsführung tragen. Sie sind verantwortlich wie Minister !) 
sowohl für die von ihnen ausgehenden einzelnen Amtshandlungen 
als auch im ganzen für die Leitung ihres Ressorts?), sowie für die 
Anordnungen und Verfügungen des Kaisers, die sie kontrasigniert 
haben. 
Diese Ministerstellung der Kanzlerstellvertreter hat aber ihre 
reichsgesetzliche Anerkennung gefunden durch $ 35 des Reichs- 
beamtengesetzes von 19073): „Der Reichskanzler und die Staats- 
sekretäre können jederzeit ihre Entlassung erhalten und fordern. 
Auch ohne eingetretene Dienstunfähigkeit erhalten sie Pension, 
wenn sie entweder ihr Amt mindestens zwei Jahre bekleidet oder 
sich mindestens zehn Jahre im Dienste befunden haben.“ So sind 
1) Vgl. über diese Verantwortlichkeit v. Frisch, Die Verantwortlichkeit der 
Monarchen und höchsten Majestäte, Berlin 1904, S. 320f., über die Verantwortlichkeit 
des Reichskanzlers daselbst S. 314 ff. 
2) Vgl. Joel, a. a. O. S. 789. 
3) In der Fassung vom ı8. Mai 1907. Vgl. Gesetz betr. Aenderungen des 
Reichsbeamtengesetzes vom 31. März 1873, vom 17. Mai 1907, Ziff. IX (RGBl. 
1907, S. 252, 202). — Im Reichsbeamtengesetz von 1873 lautete $ 35: „Der Reichs- 
kanzler, der Präsident des Reichskanzleramts, der Chef der Kaiserlichen Admiralität 
und der Staatssekretär im Auswärtigen Amt können jederzeit auch ohne eingetretene 
Dienstunfähigkeit ihre Entlassung erhalten und fordern.“ Die Novelle von 1907 hat 
dieses Recht auf alle Staatssekretäre ausgedehnt.
	        
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