Bet. über Anderungen der BO. zur Entlostung der Gerichte usw. v. 18. Mal 1916. 771
daß die Verordnung ohne vorherige Anhörung von Vertretern der Rechtsanwaltschaft
crlassen worden ist. Die Vertrauensmänner der deutschen Anwaltschaft hällen zu einer
von Euer Exzellenz gewünschten Mitwirkung jederzeit zur Verfügung gestanden, so daß
durch ihre Zuziehung ein Zeitverlust nicht verursacht worden wäre. "%
Daß die Sachkeuntnis, die die Rechtsanwaltschaft in ihrer Berufslätigkeit gerade
in Fragen des Prozeßbetriebes gewinnt, bei einer in die Zivilrechtspflege und in die Ver-
hältnisse der Rechtsanwallschaft selbst so lief eingreifenden Maßnahme nicht ohne Nutzen
häue verwertet werden können, wird durch die in der Handhabung der Verordnung ge-
machten Erfahrungen bestätigt. Schon jetzt darf behauplet werden, daß die Verordnung
das Ziel einer Entlastung der Gerichte nicht erreicht hat und nicht zu erreichen vermag.
Statistische Nachweisungen, durch die diese Feststellung zahlenmäßig erhärlet werden
könnte, liegen der Natur der Sache nach zurzeit noch nicht vor; sie würden auch nur von
zweiselhaftem Werte sein, weil dle außerordenllichen Verhältnisse der Gegenwart einen
beweiskräftigen Vergleich der seit dem Erlasse der Verordnung eingetretenen Entwicklung
und der früheren Verhältmisse unmöglich machen. Gewichtiger als statistisches Mate. ial
erscheint das Urteil der praklischen Juristen, die im täglichen Rechtsverkehre mit der An-
wendung der neuen Bestimmungen befaßt sind und ihre Wirkungen erproben können.
Darüber aber herrschte unter den Vertreiern der deutschen Anwaltskammervorstände nur
eine Stimme, daß namentlich das durch die Verordnung eingeführte notwendige Mahn-
verfahren nich! eine Erleichterung, sondern in den meisten Fällen eine beträchtliche Er-
schwerung und Verzögerung des Geschäfts- und Rechtsganges zur Folge hat, ohne doch
die erstrebte Sonderung der unstreitigen von den streitigen Prozeßsachen zu erreichen.
Die dem Vorsitzenden obliegende, nicht immer einfache Vorprüfung in Verbindung mit
der sich anschließenden schrifhichen Erörterung etwaiger Anstände bedeutet für alle Be-
teiligten einen ungleich größeren Aufwand an Zeit und Arbeit, als ihn die Wahrnehmung
eines einzelnen Termins nach den bisherigen Vorschriften erforderte. Ein nutzloser und
für den Gläubiger oft mit ernsten Nachteilen verbundener Zeitverlust tritt namentlich in
denjenigen Fällen ein, in denen sich das Mahnverfahren infolge von Anständen schließlich
als ungangbar erweist oder in denen nach Erhebung des Widerspruchs Versäumnisurleil
ergeht.
Viel bedeutsamer aber als diese und andere Mängel technischer Art erscheinen die
grundsätzlichen Bedenken, die sich gegen einzelne Vorschriften der Verordnung richten.
Solche Bedenken erheben sich zunächst gegen den Ausschluß jedes Rechtsmittels bei
einem Beschwerdegegenstand von nicht mehr als 50 M. Indem diese Neuerung für eine
große Zahl von Streitsachen eine der wichtigsten Garantien gegen erstrichterliche Fehl-
sprüche außhebt, ist sie zugleich geeignet, das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der amts-
gerichtlichen Entscheidungen bei Streitsachen in den unteren Wertstufen überhaupt zu
vermindern. Und doch sind Streitsachen dieser Art für die Beteiligten keineswegs immer
nur von geringer Bedeutung; das gilt namentlich von den Fällen, in denen (wie in Pro-
zessen über Grunddienstbarkeiten und ähnlichen, in ländlichen Bezirken oft wiederkehrenden
Sachen) die Festsetzung des Streitwerts vom richlerlichen Ermessen abhängt. Der Hinweis
auf die Beschränkung des Rechtsmittels der Verufung gegen Entscheidungen der Kauf-
manns- und Gewerbegerichte kann diese Bedenken nicht beseitigen. Denn der Zuständigkeit
dieser Gerichte unterliegen nur Streitigkeiten bestimmter Art, für die bei ihnen besonderc
Sachkenntnis vorausgesetzt werden kann; überdies sind die Meinungen darüber, ob sich
die Beschränkung des Rechtsmittels bei den Kaufmanns- und Gewerbegerichten bewährt
hat, keineswegs ungeteilt.
Wenn aber die allgemeine Ausschließung von Rechismilteln bei Streitsachen der
untersten Wertstufen trotz aller Bedenken im Interesse der Entlastung der Gerichte während
der Kriegszeit für unvermeidlich erachtet wurde, so glauben wir doch schon jetzt dringend
davor warnen zu müssen, sie ohne systematische Neugestaltung unseres Rechtsmitlelwesens
etwa auch in Zukunft fortbestehen zu lassen.
Mit besonderem Nachdrucke müssen wir uns sodann gegen die Vorschrift des 3 19 VO
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