54 II. Verfassung des Deutschen Reiches.
berufen werden; er kann zur Vorbereitung von Arbeiten allein
einberufen werden. (In Preußen müssen dagegen beide Kammern
stets gemeinschaftlich tagen.) Der Zusammentritt des Bundes-
rates hat außerdem zu erfolgen, sobald ein Drittel seiner Stimmen
es verlangt. —
Obwohl die ganze Einrichtung des Bundesrates, wenn auch
geschichtlich durch die deutsche Vielstaaterei bedingt, eine etwas
künstliche ist, so hat sie sich gleichwohl auf den Gebieten der Gesetz-
gebung wie der Verwaltung gleichmäßig bewährt. Der Geist, der
im alten Bundestage lebendig war und der jedes gedeihliche
Schaffen hintanhielt, hat sich im Bundesrate nie geregt.
C. Der Reichstag (Artikel 20—32).
Während im alten Deutschen Bunde das Volk ohne jegliche
Vertretung war, besitzt das Deutsche Reich im Reichstage
eine Gesamtvertretung des deutschen Volkes. Es besagt
dies Artikel 29 der Verfassung: „Die Mitglieder des
Reichstages sind die Vertreter des gesamten Volkes.“
In den meisten größeren Verfassungs-Staaten ist die Volks-
vertretung in zwei repräsentative Körperschaften geschieden — so
in Preußen in das Herrenhaus und das Abgeordnetenhaus —;
das Deutsche Reich dagegen hat dieses sog. Zweikammer-
system nicht übernommen. Deutschland besitzt nur eine Volks-
vertretung; insbesondere ist der Bundesrat nicht mit dem
Herrenhause in Preußen zu vergleichen (siehe S. 124).
Die Zahl der Reichstagsabgeordneten beträgt 397; be-
stimmend für die Feststellung dieser Zahl war im allgemeinen
der Grundsatz, daß auf durchschnittlich 100 000 Seelen der Be-
völkerung ein Abgeordneter gewählt wird. Hiernach wählen
Preußen 236, Bayern 48, Sachsen 23, Württemberg 17,
Baden 14, Hessen 9, Mecklenburg-Schwerin 6, Sachsen-Weimar,
Oldenburg, Braunschweig, Hamburg je 3, Meiningen, Koburg-
Gotha, Anhalt je 2, die anderen Staaten je 1 Abgeordneten.