Unßland. 323
27. Mai. Furchtbare Feuersbrünste in St. Petersburg und an andern Or-
ten. Allgemeine Bestürzung. Die öffentliche Meinung schreibt dieselben der
Bewegungepartei zu.
3. Juni. Ein kais. Ukas befiehlt eine neue, mehr specialisirte Aufstellung des
Reichsbudgets. «
s.«EinCirculardesMinistergdesInnernbesiehltdenGouvekneuröder
Provinzen, in allen größeren Städten aus Delegirten der Einwohner aller
Klassen Specialcommissionen behufs Verbesserung der Gemeindeverwal-
tung nach dem Muster derjenigen von St. Petersburg einzusetzen, mit dem
Beifügen, die Gouverneure sollten diesen Commissionen die ganze Wichtigkeit
des Gegenstandes erklären und die Nothwendigkeit größerer Theilnahme der
Bürger an ihren eigenen Angelegenheiten darlegen; die Regierung könne
nicht fortwährend die ganze Last tragen.
411. Juni. (Polen). Der Kaiser ernennt seinen Bruder, den Groß-
fürsten Constantin, zu seinem Statthalter in Polen. Ein zweiter
Ukas ernennt den Grafen Wielopolski zum Chef der Cirilver=
waltung und zum Vicepräsidenten des Staatsraths von Polen.
20. Juni. (Polen). Ein kais. Ukas, die bürgerlichen Rechte der Juden in
Polen betreffend, bricht die bisherigen Schranken zwischen Juden und Chri-
sten bis auf den Grund nieder: .
Alle seit 1811 für die Juden existirenden Beschränkungen sind aufgeho-
ben. Es ist von nun an den Juden erlaubt, Landbesitz aller Art, Ritter—
güter u. s. w. eigenthümlich zu erwerben, ebenso Grundstücke in allen Städ-
ten und Marktslecken ohne Ausnahme. Alle sog. Judenreviere in den Städ-
ten (Ghettos) sind aufgehoben und steht es den Juden frei, in allen Städten
des Königreichs und in allen Straßen ohne Unterschied zu wohnen, selbst
die Städte nicht ausgenommen, welche städtische Privilegien besitzen. Ferner
ist den Juden erlaubt, auf Dörfern zu wohnen, ebenso ist ihnen erlaubt, in
den in der Zoll= oder Binnenlinie liegenden Städten und Dörfern (drei
Meilen von der Grenze) ihren Wohnsitz zu nehmen, was bis jetzt verboten
gewesen. Von jetzt an können Israeliten als Zeugen bei Notariatshandlun-
gen dienen (bisher verboten), ebenso werden die Vorschriften der Kriminal-
ordnung, daß kein Jude als Zeuge in Kriminalprozessen gelten kann, auf-
gehoben und hat ein jüdischer Zeuge vollen Glauben. Die bisherige Form
der jüdischen Eidesleistung, nämlich Anziehen des Sterbekittels und des Ta-
les, und Vorsagen der Formel in hebräischer Sprache, ist fortan aufgehoben.
Der Gerichtsbeamte nimmt von den Schwörenden in Gegenwart eines jü-
dischen Geistlichen den Eid in der Landessprache ab. Dagegen sind die Ju-
den von nun an verpflichtet, sich in ihren Verhandlungen, sie mögen Namen
haben, welche sie wollen, sich der polnischen oder sonst gewöhnlichen Schrift-
zeichen zu bedienen. Alle mit jüdischen Schriftzeichen geschriebenen Docu-
mente sind in den Augen des Gesetzes null und nichtig. Der kais. Ukas
schließt damit, daß der Administrationsrath des Königreichs stufenweise die
auf den Juden ausnahmsweise haftenden Abgaben und Lasten und alle Be-
schränkungen in Bezug auf Handel, Industrie, Gewerbe und Handwerk auf-
heben werde.
21. Juni. Die Regierung sieht sich genöthigt, die militärischen Sonntagsschulen
in Rußland zu schließen.
27. „ (Polen). Attentat auf General Lüders in Warschau.
28. „ (Polen). Graf Wielopolski eröffnet die dießjährige Session des Staats-
rat hs.
Die Eröffnungsrede spricht im Auftrage Sr. Maj. dem Staatsrath den.
217