Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierter Jahrgang. 1863. (4)

180 
England. 
Depesche des Grafen Russel an Lord Cowley: „... J. Maj. 
Regierung gewahrt in dem Schritt mit voller Anerkennung den Wunsch des 
Kaisers der Franzosen, der in mehreren Theilen Europa's vorhandenen Unruhe 
ein Ende zu machen, und den allgemeinen Frieden auf festere Grundlagen 
zu stellen als es, seiner Ansicht nach, diejenigen sind, auf denen dieser Friede 
jetzt beruht. Der Kaiser erklärt, daß Frankreich bei dieser Frage sich uneigen— 
nützig verhalte, daß er für seinen Theil keine Vergrößerung suche, und daß 
die zu sichernden Interessen nicht die Frankreichs, sondern die Europa's seien. 
J. Maj. Regierung kann ebenfalls erklären, daß Großbritannien in dieser 
Sache uninteressirt ist, daß es keine Vergrößerung sucht, und daß es bloß 
Mäßigung und Frieden anzurathen hat. Aber Frankreich und Großbritan- 
nien, welche auf diese Weife selbst interesselos sind, sind verbunden, zu er- 
wägen, was die Weltlage ist, und was auf einem Congreß das wahrschein- 
liche Benehmen solcher Mächte wäre, welche aufgefordert werden möchten, 
Opfer an Gebiet, oder Ansehen und moralischer Stärke, zu bringen. — Es 
würde ziemlich zwecklos sein, bei dieser Gelegenheit weiteres über die Verträge 
von 1815 zu sagen. Praktisch gesteht der Kaiser der Franzosen die bindende 
Kraft vieler Theile dieser Verträge zu, und J. Maj. Regierung räumt ebenso 
bereitwillig ein, daß einige Theile derselben abgeändert oder mißachtet 
worden sind, und daß noch andere Theile zur Zeit bedroht oder in Frage ge- 
stellt sind. Wie J. Maj. Regierung aus den von Hrn. Drouyn de Lhuys ge- 
gebenen Erörterungen entnimmt, muß nach Ansicht der kaiserlichen Regierung 
es jedermann klar sein, daß mehrere Fragen bis jetzt nicht gelöst sind, welche 
Europa in Verwirrung bringen können. Von dieser Art sind folgende: Darf 
der Kampf in Polen noch weiter verlängert werden? Soll Dänemark in Krieg 
mit Deutschland gerathen, und sind die Mächte, welche früher an der Ver- 
handlung dieser Frage theilnahmen, gleichgültig dagegen geworden? Soll 
Anarchie in den Donaufürstenthümern fortdauern, und so in jedem Augen- 
blick die orientalische Frage wieder zu eröffnen drohen? Sollen Italien und 
Oesterreich fortwährend in feindlicher Haltung gegen einander stehen blei- 
ben? Soll die Besetzung Roms durch französische Truppen in unabsehbare 
Zeit fortdauern? — Die kaiserliche Regierung stellt die weitere Frage: Sollen 
wir, ohne neue Sühneversuche gemacht zu haben, der Hoffnung entsagen, den 
Nationen Europa's die Lasten zu erleichtern, die ihnen, in gegenseitigem Miß- 
trauen, durch übermäßige Waffenrüstungen aufgelegt sind? — Dieß, ohne 
Zweifel, sind die Hauptfragen, welche den Frieden Europa's entweder stören 
oder bedrohen: aber es gibt eine fernere Frage, welche, wie J. Maj. Regie- 
rung erachtet, dieser ganzen Sache zu Grunde liegt, und das ist folgende: 
Ist es wahrscheinlich, daß ein allgemeiner Congreß der europäischen 
Staaten eine friedliche Lösung der verschiedenen strittigen Materien darbieten 
würde? Dieß, in der That, ist die Frage, welche die Regierungen der ver- 
schiedenen Staaten vor allem ernstlich und aufmerksam zu erwägen haben. 
Nach unserem Dafürhalten gibt es ein Hauptbedenken, das unsere Schluß- 
folgerung zu bestimmen hat. Nach dem Krieg, der Deutschland von 1619 
bis 1649 verheerte, und nach den aufeinander folgenden Kriegen, unter denen 
der europäische Continent von 1793 bis 1815 zu leiden hatte, war es mög- 
lich, Gebietsvertheilungen und Rechtsdefinitionen durch einen Congreß vorzu- 
nehmen, weil die europäischen Völker der Schlächterei müde und durch die 
Kriegslasten erschöpft waren, und weil die im Congreß zusammentretenden 
Mächte durch die Zeitumstände die Mittel in der Hand hatten, ihre Beschlüsse 
und Anordnungen auszuführen. Aber im jetzigen Augenblick, nach einer 
langen Friedensdauer, ist keine Macht willens, irgend ein Gebiet aufzugeben, 
auf das sie einen Rechtstitel durch Vertrag oder langen Besitz hat. So sind 
z. B. von den obenerwähnten Fragen, welche Europa beunruhigen oder be- 
drohen, zwei der gefährlichsten diejenigen, welche Polen und Italien betreffen. 
Prüfen wir den gegenwärtigen Stand dieser Fragen, und sehen wir zu, ob
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.