Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierter Jahrgang. 1863. (4)

England. 181 
es wahrscheinlich ist, daß ein Congreß zu einer gütlichen Lösung derselben 
verhelfen würde. Erstens, was Polen anlangt, so ist diese Frage für Frank- 
reich, Oesterreich oder Großbritannien keine neue. Mehrere Monate lang 
haben diese Mächte, während sie sich jeder Drohung sorgfältig enthielten, von 
Rußland durch freundliche Vorstellungen die Annahme von Maßregeln hei- 
lender Natur zu erlangen gesucht, aber nichts erreicht als oft wiederholte 
Versprechungen, daß sobald die Insurrection unterdrückt sei, Milde und Ver- 
söhnung eintreten solle. Würde es da etwas frommen im Namen eines Con- 
gresses Vorstellungen zu wiederholen, welche bereits mit so geringem Erfolg 
gemacht worden sind? — Ist es wahrscheinlich, daß ein Congreß im Stande 
sein würde, bessere Bedingungen für Polen zu sichern, es wäre denn durch 
vereinigte Anwendung von Wassengewalt? Durch Rußlands militärisches Ueber- 
gewicht und seine schonungslose Strenge ist mittlerweile ein beträchtlicher 
Vortschritt zur Unterwerfung der Insurgenten gemacht. Läßt sich erwarten, 
daß Rußland im Stolz seiner Stärke das bewilligen werde, was es in den 
frühern Tagen seiner Entmuthigung verweigert hat? Würde es auf den bloßen 
Wunsch des Congresses ein unabhängiges Polen herstellen Aber wenn Ruß- 
land nicht wollte, dann wird die Aussicht: entweder eine Demüthigung für 
Europa, oder Krieg mit Rußland, und diejenigen Mächte, welche die Kosten 
und Wagnisse eines solchen Kriegs nicht auf sich nehmen wollen, müssen also 
wohl die andere Alternative zu vermeiden wünschen. Es läßt sich zudem in 
Wahrheit sagen, daß die jetzige Zeit eine Uebergangsperiode ist. Wenn der 
Aufstand unterdrückt ist, dann wird sich's zeigen, ob die Versprechungen des 
Kaisers von Rußland in Erfüllung gehen! Wird der Aufstand nicht unter- 
drückt, oder wird, um ihn zu unterdrücken, das polnische Volk mit neuer und 
— wenn das möglich ist — mit erschwerter Strenge behandelt, so werden 
sich andere Fragen ergeben, welche weitere Erwägung ersordern mögen, aber 
welche in einer großen Versammlung von Repräsentanten aller Mächte Eu- 
ropa's kaum eine Lösung finden würden. In der That ist zu besorgen, daß 
von Tag zu Tag austauchende Fragen, gefärbt von den wechselnden Ereig- 
nissen der Stunde, vielmehr zu nutzloser Debatte als zu praktischer und nütz- 
licher Berathung Anlaß geben würden in einem Congreß von 20—30 Re- 
xräsentanten, der keine oberste Autorität anerkennte, und durch keine festen 
Verfahrungsregeln geleitet wäre. Gehen wir zur italienischen Frage über, 
so ergeben sich frische Schwierigkeiten, Erstens ist es die Absicht, durch einen 
neuen Vertrag den jetzigen Besitzstand in Italien zu sanctioniren? Der Papst 
und die den abgesetzten Fürsten verwandten Souveräne könnten sich einerseits 
weigern, dem König von Italien einen ihm bis jetzt vorenthaltenen Titel zu 
geben; und der König von Italien andererseits würde sich wahrscheinlich einer 
Anordnung widersetzen, die ihn, implicit wenigstens, von der Erwerbung Roms 
und Venetiens auszuschließen schiene. — Oder ist beabsichtigt, von Oesterreich 
im Congreß den Verzicht auf Venetien zu verlangen? J. Maj. Regierung 
hat guten Grund zu glauben, daß kein österreichischer Repräsentant einem 
Congreß beiwohnen würde, wo ein solcher Vorschlag zur Verhandlung käme. 
Wir wissen, daß, wäre ein solches Vorhaben im Voraus angezeigt, so würde 
Oesterreich es ablehnen, überhaupt den Congreß zu beschicken, und würde die 
Frage ohne Anzeige aufs Tapet gebracht, so würde der österreichische Minister 
sofort die Versammlung verlassen. Also auch in dieser Hinsicht würde der 
Congreß sich bald im Angesicht der Alternative befinden: Nullität oder Krieg. 
Allein ist es möglich einen Congreß zu versammeln, und einen italienischen Reprä- 
sentanten zum Sitz darin einzuladen, ohne den Zustand Venetiens zu discutiren? 
Der Kaiser der Franzosen wäre wohl die erste Person, welche die Unmöglichkeit 
eines solchen Verfahrens fühlte und einräumte. — Was Deutschland und 
Dänemark betrifft, so ist es wahr, daß mehrere von den Mächten Europa's 
sich bei dieser Frage interessirt haben, aber die Zugabe Spaniens, Portugals, 
Italiens und der Türkei zur Berathung würde die Aussicht auf eine befrie-
	        
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