Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

Oesterreich-Angarn. 279 
könnten, die Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien von ihren 
Ubrigen Stammesbrüdern im Kaiserstaate loszulösen und der slavischen Ma- 
jorität, sowie rücksichtsloser Unterdrückung durch dieselbe preiszugeben. Aus 
den gleichen Gründen werden wir jederzeit den Ansprüchen slovenischer Wort- 
führer auf Zerreißung der verfassungsmäßig gewährleisteten Integrität einzel- 
ner Länder auf das Entschiedenste entgegentreten.“ Zu dem die galizische 
Resolution betr. Punkt der Tagesordnung entwickelte Rechbauer seine An- 
sichten für eine den Polen zu gewährende Sonderstellung im Sinne seines 
bekannten Antrags und spricht sich auch für eine mögliche Erweiterung der 
Autonomie in den übrigen Ländern aus. Hierüber entspinnt sich eine äußerst 
lebhafte Debatte und wird schließlich beschlossen, daß, unter Hinweis auf die 
noch im Gang befindlichen Unterhandlungen mit den Polen, die von Galizien 
beanspruchte Sonderstellung erst dann in Erwägung zu ziehen sei, wenn der 
neugewählte Landtag die hierauf bezüglichen Wünsche im verfassungsmäßigen 
Wege ausgesprochen haben werde. Für den Rechbauer'schen Vorschlag in 
Betreff der Erweiterung der Autonomie aller Länder erheben sich nur 3—4 
der Anwesenden. Ein weiterer Punkt, welcher das entschiedenste Festhalten 
am Dualismus als einer Bürgschaft für den Bestand des constitutionellen 
Systems in Oesterreich betont, wird nach dem Referat Kaiserfelds ohne De- 
batte angenommen. Desto lebhafter gestaltet sich wieder der Kampf um die 
Wahlreform. Hier gilt es zunächst, über den Zwiespalt in Betreff des Grup- 
pensystems hinwegzukommen, der vornehmlich zur Vereitelung der Wahlreform 
im Reichsrathe beigetragen hatte. Rechbauer spricht sich gegen das Gruppen- 
system aus. Mährer und Deutschböhmen erklären dagegen mit Rücksicht auf 
die nationalen Verhältnisse in ihrer Heimath, der Beibehaltung des Groß- 
grundbesitzes nicht entrathen zu können. Harum (Innsbruck) erklärt, daß in 
Tyrol wohl auch die Beibehaltung des jetzigen Gruppensystems im Interesse 
der liberalen Partei gelegen wäre, daß jedoch im Interesse der Einigung er 
und seine Genossen gleichfalls gegen die besondere Vertretung des Großgrund- 
besitzes im Abgeordnetenhause stimmen würden. Nun sprechen Granitsch und 
Kaiser (Beide von Niederösterreich) mit Kraft gegen das Gruppensystem und 
beschwören die Deutschböhmen, nicht auf dieser schwankenden Stütze des Groß- 
grundbesitzes zu beharren und lieber auf das Prinzip der Freiheit zu bauen. 
In der Abstimmung erklärt sich die Versammlung mit Zweidrittelmehrheit 
für directe Wahlen mit Beseitigung des bisherigen Gruppensystems, d. h. 
gegen den Großgrundbesitz; die Minorität bilden die meisten Deutschböhmen 
und Mährer. Da erhebt sich unter dem gespanntesten Schweigen der Ver- 
sammlung Dr. Schmeykal und gibt im Namen seiner Landsleute die Erklä- 
rung ab, daß sie, um die Einigung zur Wahrheit zu machen, sich der Majo- 
rität fügten, den eben gefaßten Beschluß zu dem ihrigen machten und für ihn 
zu wirken entschlossen seien. Auch eine Umgestaltung des Herrenhauses „im 
Geiste des Fortschrittes und der verfassungsmäßigen freiheitlichen Entwicklung“ 
wird für wünschenswerth erklärt, dagegen eine Specialisirung der reform- 
bedürftigen Punkte abgelehnt; auch hier bleibt Rechbauer mit seinem Antrage 
auf Umgestaltung des Herrenhauses in eine Länderkammer in der Minderheit. 
Ein weiterer Beschluß der Versammlung fordert „die gänzliche Aufhebung des 
Concordates und die unbedingte Befreiung der Staatsgewalt wie der 
Staatsbürger von jedem erzwingbaren Gebote oder Verbote der kirchlichen 
Organe“, insbesondere die Einführung der Civilstandsregister und der obliga- 
torischen Civilehe, sowie die gesetzliche Regelung des Verhältnisses der Staats- 
gewalt zu den Religionsgesellschaften und deren Dienern, und verlangt ent- 
schiedene Zurückweisung jeder Einmengung der römischen Curie und ihrer 
Organe in die Funktionen der constitutionellen Staatsgewalt. Die Frage 
eines dem Ministerium zu ertheilenden Mißtrauensvotums wird zwar angeregt, 
aber mit Rücksicht darauf, daß ein solches in den Rahmen eines Parteipro- 
gramms nicht passen würde, wieder fallen gelassen. Das so festgestellte Pro-
	        
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