Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

Trankreich. 343 
20. Febr. Die französische Regierrung stellt in Folge der Veröffentlichung 
der 21 Canones (s. Rom) an die römische Curie das Verlangen, 
auf dem Concil durch einen Botschafter vertreten zu sein, wie dieß 
bei früheren Concilien der Fall war. 
21.—22. Febr.#. Gesetzgeb. Körper: Debatte über die Interpellation Jules 
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Fadbre, betr. die innere Lage: 
Jules Favre: Wir treten in eine neue Bahn, in ein neues Régime, 
welches die Verurtheilung der persönlichen Regierung ist. Man nennt dieses 
neue Régime das parlamentarische, aber richtiger sollte es die Regierung des 
Landes durch das Land, die Regierung für und durch die Freiheit heißen, 
denn dies ist das Ziel, welches die Nation seit den Wahlen von 1869 achtungs- 
voll, aber dringend verlangt. Es ist daher ganz irrig, zu behaupten, daß 
diese Reformbewegung aus der Initiative des Souveräns hervorgegangen sei. 
Nein, nicht der Souverän hat diese Reformen gewollt, sondern die Nation hat 
iihn wissen lassen, daß sie dieselben will. (Zustimmung links.) Die gegen- 
wärtige Regierung war auf den Ruinen aller Freiheiten, mit einziger Aus- 
nahme des allgemeinen Stimmrechts, errichtet worden. Dicse Ausnahme hielt 
der Nation die Möglichkeit offen, die Regierung dereinst wieder zu bekämpfen 
und ohne Blutvergießen abzuschütteln. Von 1852—1860 war das allgemeine 
Stimmrecht in Abhängigkeit gehalten; das erste Wiedererwachen der Freiheit 
schloß, sich an den italienischen Krieg; im Jahr 1863 wuchs die Bewegung, 
und seit 1869 halte ich die Partie für gewonnen, wenn nicht neue Fehler das 
Erreichte wieder in Frage stellen. Und gleichwohl beobachtete die Regierung bei 
deoen letzten Wahlen noch dieselbe Haltung, wie früher; der bedeutende Mann, 
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welcher siebzehn Jahre lang mit seinem Talent die persönliche Regierung ver- 
körperte, wollte den neuen Bestrebungen keine Rechnung tragen, seine Sprache 
war stolzer als je, und die offiziellen Candidaturen wurden in aller Strenge 
aufrecht erhalten. Selbst das Resultat der Wahlen war noch keine genügende 
Verwarnung, und in der Botschaft vom 28. Juni behielt sich die Regierung 
noch immer allein das Recht vor, zu ermessen, wie und in welchem Maße die 
Wünsche des Landes zu befriedigen wären. Dieses schien selbst auf Ihren 
Bänken (zur Rechten gewendet) ein Anachronismus, und es folgte die Inter- 
pellation der 116. So ward die Verfassung durch den Hauch des Volks- 
willens fortgeblasen; die persönliche Regierung konnte nicht widerstehen: das 
wäre ihre Vernichtung gewesen. Immerhin war es von ciner so bedeutenden 
Gewalt ein Akt der Weisheit, sich zu unterwerfen; denn nichts geht über eine 
friedliche Revolution, und besser ist eine eingeschränkte und allmählich fort- 
schreitende Freihcit, als diejenige, welche durch Stürme errungen wird. (Sehr 
gutl) Die Nation hat sich also geltend gemacht, und das Staatsoberhaupt 
hat ihre Souveränetät als eine rechtmäßige anerkannt. Das ist ein solider 
Boden. Jeder Widerstand gegen den von den freigewählten Vertretern der 
Nation ausgedrückten Volkswillen ist aufrührerisch und muß niedergeworfen 
werden, mag er nun von einer Minderheit als Gruppe oder von einem Ein- 
zigen ausgehen, und jeder Bürger ist verpflichtet, seine letzten Blutstropfen für 
diese Volkssouveränetät zu vergießen. (Bewegung.) Die Macht kommt also 
nicht mehr von oben, sie ruht nicht mehr in den Tuilerien, sondern in den 
Wahl-Comité's. Viermal sind seit 1852 allgemeine Wahlen vollzogen worden: 
im Jahre 1852 nehmen 6,222,000 Bürger an den Wahlen Theil; die Re- 
gierung erhält 5,248,000 und die Opposition nur 810,000 Stimmen, und 
beinahe in demselben Verhältniß erhält im Jahre 1857 die Regierung von 
6,136,000 Stimmen 5,200,000 und die Opposition 844,000. Aber nun wen- 
det sich das Blatt. Im Jahre 1863 ist die Zahl der Votirenden schon auf 
7,283,000 gestiegen, und davon entfallen auf die Regierung 5,362,000 und 
auf die Opposition 1,800,000 Stimmen. Im Jahre 1869 endlich erhalten
	        
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