Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

Tramnkriich. 
die offiziellen Candidaten 4,6634,000 und die Oppositivn 3,310,000 Stimmen. 
Die Differenz zwischen beiden ist auf 1,350,000 gesunken, und wenn man da- 
von noch die Staatsbeamten und die sonstigen für den administrativen Druck 
empfindlichen Wähler abzieht, so frage ich Sie, auf welcher Seite die Mehr- 
heit ist. (Unruhe.) Dies war die aufssteigende Bewegung des öffentlichen. 
Geistes: die Revolution ist in den Ideen vollzogen, sie muß sich jetzt auch in 
den Thatsachen vollziehen. Was ist zu diesem Zwecke zu thun! Die Maß- 
regeln liegen auf der Hand. Das Land verlangt einc freie Presse, ungehin- 
dertes Vereinsrecht, freie Associcgtion. Es will, daß die Staatsbeamten nicht 
eine privilegirte, ihrer Straflosigkeit sichere Kaste bilden; es will endlich das 
doppelte Jech der Militärfrohne und der Unwissenheit abschlitteln. Es ist 
richtig, daß diese Bewegung am slärksten in den Städten hervorgetreten ist, 
da wo die Geister am aufgeklärtesten und am unabhängigsten sind. (Unruhe.) 
Welches ist unter diesen Umständen die Politik des neuen Cabinets? Welches 
ist sein Programm? Es liegen zwei Programme vor, welchem von beiden 
schließt sich das Cabinet an! Graf Daru, Minister des Aeußern: Allen 
beiden. Favre: Aber sie widersprechen sich in einzelnen Punkten. Finanz- 
minister Buffet: Sie lassen sich vollkommen in Einklang bringen. Favre: 
Vielleicht in der Auslegung, welche Sie den beiden Actenstücken geben werden; 
aber bisher herrscht zwischen denselben in mehreren Punkten ein vollkommener 
Widerspruch. Ich wende mich an die Minister des linken Centrums und an 
die Minister des rechten Centrums.. Graf Daru: Die Minister sind aus 
verschiedenen Parteigruppen hervorgegangen, aber sie sind vollkommen einig. 
Favre: Die eine Gruppe erklärt sich dafÜür und die andere dagegen, daß dem 
gesetzgebenden Körper die constituirende Gewalt übertragen werde; desgleichen 
sind sie in der Frage der Ernennung der Maires nicht einig. Die Frage der 
constituirenden Gewalt ist für uns von hoher principieller Bedeutung: Wenn 
die Mandatare des Volkswillens nicht das Recht haben, das Grundgesetz zu 
bestimmen, so sind sie gar nichts. (Lärm.) Wir können nicht über allem 
Uebrigen die persönliche Gewalt schweben lassen, deren Wirksamkeit wir kennen 
gelernt haben, die uns vernichten und alles in Gefahr bringen kann. So 
lange das Ministerium diese Gewalt fortbestehen läßt, besteht es nur aus 
Schildwachen, welche vor der persönlichen Regierung Wache stehen, um uns 
an die Existenz des parlamentarischen Régime's glauben zu machen; wir be- 
halten am Halse eine Schlinge, welche Sie anziehen würden, sobald es Ihnen 
gutdünken wird. (Sehr gut! links Lärm.) Dasselbe gilt von der munici- 
palen Frage, in welcher ich für meine Person den Standpunkt des linken 
Centrums theile; wenn die Maires aus den Gemeinderäthen von der Regie- 
rung ernannt werden, so bleibt auch hierin das persönliche Regiment fort- 
bestehen. So lange die Minister sich nicht über diese Punkte erklärt haben, 
sind wir berechtigt, ihnen jedes Vertrauen zu verweigern. Ex-Minister Pi- 
card tritt Favre hinsichtlich der Kammerauflösung entgegen: Diese Auflösung 
sei unzulässig, so lange die Mehrheit und die Regierung in Uebereinstimmung 
seien. Graf Daru (verliest seine Antwort): Ich mußte mich wundern, als 
Hr. Jules Favre uns in bittern Vorwürfen als die blinden Werkzeuge der 
persönlichen Regierung hinstellte und über die auf Frankreich lastende Dictatur 
seufzte. Meines Wissens ist ein Volk frei, wenn das Staatsoberhaupt nicht 
ohne Zustimmung der Nation über das Vermögen, das Blut, die Freiheit 
eines einzigen Körpers verfügen kann, wenn die Gesetze der Ausdruck des all- 
gemeinen Willens und nicht bloß des Willens des oder der Regierenden sind, 
wenn die Regierung in ihren Acten beschränkt, überwacht und so organisirt ist, 
daß sie nöthigenfalls im Zaum gehalten werden kann; das sind die Merkmale 
eines freien Volkes. Dazu gehört, daß von der Nation gewählte Versamm- 
lungen die Gesetze beschließen, die Interessen erörtern, und durch aus ihrer 
Mitte berufene Männer im Rathe der Regierung vertreten sind. Das ist die 
praktische Form des Princips der Volkssouveränetät, und eben diese Form hat
	        
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