Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

Trankreich. 355 
Es bleibt uns nur noch eins übrig, schließt der Redner sehr erregt, daß wir 
nämlich sämmtlich unsere Entlassung geben; denn was man Ihnen hier 
vorschlägt, das ist, daß Sie sich selbst zur Ohnmacht verurtheilen, und 
das werden Sie nicht thun. Zwei Nedner des linken Centrums, Martel 
und d'Andelarre, schließen sich gerade aus Sympathie für das Cabinet 
warnend den Einwendungen gegen das Plebiscit an. Das Senatusconsult 
wahre der Verfassung noch viel zu viele Einzelheiten und sei die Wurzel 
unaufhörlicher Plebiscite, während dieser Weg nur in den äußersten Fällen 
eingeschlagen werden dürfte. Endlich schließt sich noch Jul. Favre mit 
scharfen Ausfällen gegen den afterdemokratischen Charakter des Plebiscits den 
HH. Grévy und Picard an; er wiederholt mit aller Entschiedenheit, daß das 
Senatusconsult die Vernichtung der parlamentarischen Regierung und die 
Wiederherstellung des persönlichen und despotischen Regiments sei, und daß die 
Minister nur noch die blinden Werkzeuge dieses persönlichen Regiments blie- 
ben. Aber nehmen Sie sich in Acht, schließt er, Sie werden es dahin bringen, 
der Nation zu beweisen, daß zwischen ihr und diesem persönlichen Regiment 
absolute Unvereinbarkeit herrscht. Gambetta hält in einer Rede, welche 
durch Formschönheit und Wärme Eindruck macht, einen wahrhaft blendenden 
Panegyrikus auf die republikanische Staatsform und schließt dahin: Dem 
Ministerium war die Aufgabe zugefallen, die persönliche Regierung zu ent- 
waffnen; es wird aber nur ein Ministerium der Enttäuschung gewesen sein. 
Wenn man dem Lande die constituirende Gewalt wiedergeben will, muß man 
sie nicht mit Worten geben und thatsächlich für sich behalten. Wenn Sie 
nicht diesem Ministerium, welches das Ihrige ist, Ihren Willen auszwingen, so 
wird die Geschichte sagen, daß Sie die Herren der Situation gewesen sind, und 
sie wird darüber richten, ob Sie Ihre Pflicht erfüllt haben. Ollivier: Die 
Nothwendigkeit, dem Plebiscit eine Discussion vorangehen zu lassen, habe die 
Regierung selbst anerkannt, und diese Discussion sei so frei gewesen, daß man 
auf dieser Tribüne einen Hymnus auf die Republik habe anstimmen können. 
Diese Frage, ob das allgemeine Stimmrecht mit der constitutionellen Monarchie 
vereinbar sei, müsse nicht auf abstract philosophischem Wege, sondern nach der 
erxperimentalen Methode untersucht werden. Er selbst (Ollivier) sei, nachdem 
er sich oft an den Thatsachen gestoßen, zu der Ueberzeugung gelangt, daß das 
allgemeine Stimmrecht durchaus nicht seinem Wesen nach diese oder jene 
Staatsform gebiete, sondern sich ebenso gut der monarchischen als der republi- 
kanischen Form anpasse. Die wahre Legitimität der Regierung sei keine 
rechtliche, sondern eine thatsächliche. Wie wolle man aber leugnen, daß das 
Kaiserreich die Ausführung jedes Fortschritts möglich mache! Das Land be- 
dürfe also keiner Umwälzung, und wenn eine solche, was Gott verhüte, er- 
folgte, so würde der Vorredner selbst den Rest seines Lebens hindurch be- 
dauern, dieselbe herbeigeführt zu haben. „Die berechtigten Genugthuungen, 
welche der socialistischen Bewegung, die das charakteristische Merkmal unserer 
Zeit ist, zu gewähren sind, können nur von einer starken Regierung gewährt 
werden, welche die Ordnung verbürgt und das Mögliche gibt, weil sie sicher 
ist, die Utopie und die Chimäre besiegen zu können. Darum lasse man end- 
lich die theoretischen und dialektischen Streitigkeiten fallen und nehme mit ver- 
einten Kräften die großen Staatsaufgaben, welche alle unter dem gegenwärti- 
gen System gelöst werden können, in Angriff.“ Nach einer kurzen Apostrophe 
IJ. Simon's, der das Plebiscit als einen Hohn auf die Volkssouveränetät 
bezeichnet, leitet der Präsident endlich rasch die Abstimmung ein. Es liegen 
drei Tagesordnungsformeln vor. O llivier erklärt, nur diejenige des rech- 
ten Centrums annehmen zu können, die dahin geht, „die Kammer, nachdem 
sie die Erklärungen des Ministeriums gehört, geht im Vertrauen auf die 
Ergebenheit desselben für die kaiserliche und parlamentarische Regierung zur 
Tagesordnung Über", die denn auch gegen die Stimmen der Linken und einige 
wenige der Centren angenommen wird. 
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