Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

Trankreich. 361 
recht erhalten; er läßt die süddeutsche Gruppe fortbestehen und sichert Oester- 
reich die ihm im Gleichgewichte Europa's gebührende Stellung. Garnier- 
Pages (für Volksbewaffnung, gegen Conscription und gegen Stellvertretung): 
Jeder Bürger diene zwei Jahr in der Volkswehr und fünf Jahre in der Re- 
serve. Frankreich gebe für die Armee mehr aus, als Oesterreich und der nord- 
deutsche Bund zusammen. Granier de Cassagnac: Nehmen wir den Rhein 
und wir werden bald eine Verminderung von 200,000 Mann haben. Kriegs- 
minister: Eine zweijährige Dienstzeit würde nicht genügen, dem Soldaten 
jenen Corpsgeist zu geben, welcher die eigentliche Stärke einer Armee sei; dazu 
seien 4 bis 4¼ Jahre, die das gegenwärtige Gesetz vorschreibe, zum mindesten 
nöthig. Thiers will der Opposition offen sagen, daß sie hier auf einem Irr- 
wege sei. Man muß, fährt er fort, die Consequenzen der Fehler, die man 
begangen hat, über sich ergehen lassen. Den Frieden, welchen wir alle wün- 
schen, erhalten wir gerade am besten aufrecht, wenn wir stark sind. Ich habe 
zu allen Zeiten und ganz besonders seit den verhängnißvollen Ereignissen von 
1866 die Lage Europa's aufmerksam beobachtet. Nun denn, als der luxem- 
burgische Fall eintrat, war Frankreich nicht genügend gerüstet, um sich Achtung 
zu verschaffen. Es ist das Verdienst des Marschalls Niel, hier das Nöthige 
nachgeholt zu haben: seinen Rüstungen verdanken wir den Fortbestand des 
Friedens. Man spricht von Abrüstung, aber wir sind ja auf dem Friedens- 
fuß, und dasselbe gilt in Wahrheit auch von Preußen, wo sich nur die Macht- 
verhältnisse seit 1866 in gefährlicher Weise verändert haben. Es ist vollkom- 
men wahr, daß die Niederlagen Oesterreichs in unzeitigen Sparsamkeitsmaß- 
regeln ihren Grund hatten. Hüten wir uns, in denselben Fehler zu verfallen. 
Damit Preußen abrüsie, dazu müßte es nicht etwa seine Armee reduciren, 
sondern den ganzen Nordbund und die Verträge mit den Südstaaten zertrüm- 
mern. In diesem Bunde, in diesen Verträgen ruht seine Streitmacht, und es 
wird sie nicht zum Opfer bringen. Darum ist die Abrüstung eine Chimäre. 
Alle Welt ist auf dem Friedensfuß; nur hat sich für Preußen dieser Friedens- 
fuß verdoppelt; daher scheint mir ein Contingent von 90,000 Mann das Mi- 
nimum, und ich beschwöre Sie, an den Ernst der Lage zu denken und Ihre 
Pflicht als gute Franzosen zu thun. Jules Favre: Nach der Ansicht des 
Hrn. Thiers ist schon die Existenz Preußens, welches seine Herrschaft über 40 
Millionen Menschen ausgedehnt hat, eine beständige Drohung für Frankreich. 
Welches Interesse sollen denn aber diese 40 Millionen haben, sich auf uns zu 
werfen und den Krieg zu erklären? Nein, die Sicherheit der Völker beruht 
nicht in einer Concurrenz des Heeresaufwandes. Thiers: Ich habe nicht ge- 
sagt, daß Preußen uns bedroht; ich glaube im Gegentheil, daß der sehr be- 
deutende Mann, welcher an seiner Spitze steht, für den Frieden ist. Um aber 
unsererseits diesen Frieden zu fördern, müssen wir einmal sehr friedliebend 
und zweitens sehr stark sein. Wir machen der Regierung Sadowa zum Vor- 
wurf. Sadowa war für mich ein großer patriotischer Schmerz, ein Unglück, 
das nicht wieder gut zu machen ist, ein ungeheures Ereigniß, das größte, wel- 
ches sich seit mehreren Jahrhunderten vollzogen hat. Preußen, welches 19 Mil- 
lionen Einwohner zählte, steht jetzt an der Spitze ven 40 Millionen, und 
glauben Sie ctwa, daß Graf Bismarck nicht sehr stark sein muß, um eine 
tapfere, fkriegerische und ehrgeizige Nation im Zaum zu halten? Haben die 
„Fortschritte der Philosophie“ ctwa die preußische Armce verhindert, auf Wien 
zu marschiren? (Sehr gut!l) Ich ehre die Kühnheit und den Muth des 
Grafen Bismarck. Wissen Sie, warum er jetzt friedlich ist? Man fragte so- 
eben, wem Süddeutschland gehöre. Ich antworte: dem Vorsichtigsten. 
Darum ist Graf Vismarck friedlich, und darum müssen auch wir es sein, um 
nicht den Süden in die Arme Preußens zu drängen. Das schließt keineswegs 
aus, daß man gerüstet sein muß; denn man darf niemals von der Friedfer- 
tigkeit eines Andern abhängen. Wer steht uns dafür, daß diese Friedfertig- 
keit anhielte, wenn sich z. B. im Orient eine gute Gelegenheit böte! Unsere
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.