Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

380 
Trankreich. 
forderung der Huissiers in den Sitzungssaal zurückgekehrt, alle andern wei- 
gern sich, inmitten dieser Unruhe zu berathen. Schneider hat indeß den Prä- 
sidentenstuhl eingenommen. Cremieux, Gambetta, Schneider, Glais-Bizoin 
wenden sich mit Ansprachen direct an die Tribünen, um sie zum Schweigen 
zu vermögen. Gambetta erklärt ihnen, die Linke habe sich gegenüber der 
Kammer verpflichtet, der Freiheit ihrer Berathungen Achtung zu verschaffen. 
Die Wirkung ist nur eine momentane, der Lärm dauert fort. Um 3 Uhr 
werden die Thüren zum Sitzungssaale eingeschlagen, die Menge dringt in 
denselben und stimmt die Marseillaise und den chant du départ an. Von 
allen Seiten ertönt: Es lebe die Republik. Präsident Schneider: Da jede 
Berathung unter diesen Umständen unmöglich ist, so erkläre ich die Sitzung 
für aufgehoben. Es ist 3 Uhr. Der Präsident verläßt seinen Sessel; die 
Menge nimmt vom Bureau und von der Rednerbühne Besitz und hat sich 
vollständig zum Herrn des von ihr angefüllten Saales gemacht. 
Senat (23 Uhr): Die suspendirte Sitzung wird wieder aufge- 
nommen. 
Präsident Rouher theilt ihm den Tumult im Sitzungssaale des gesetz- 
gebenden Körpers mit, und daß dieser auf jede Berathung verzichtet zu haben 
scheine. Ein Senator verlangt, daß sich der Senat in Permanenz erkläre. 
Rouher: Wir können hier noch lange warten, ohne uns mit einem Gesetz- 
entwurf befassen zu können; wir haben in der That keinen Gegenstand der 
Berathung. Uebrigens bin ich bereit, die Beschlüsse des Senats auszuführen. 
Baroche (der frühere Justizminister): Der Senat muß vor Allem mit der 
größten Entschiedenheit gegen die Vergewaltigung protestiren, deren Opfer die 
andere Versammlung ist. Wenn wir hoffen könnten, daß sie sich auch gegen 
uns wenden möchten, jene revolutionären Volkskräfte, welche in den gesetzgeben- 
den Körper eingedrungen sind, so würde ich denken, daß Jeder von uns auf 
seinem Sessel ausharren müßte, um die Eindringlinge zu erwarten. Aber 
unglücklicher Weise — denn hier ist es, wo ich sterben möchte! — können 
wir diese Hoffnung nicht haben. Die Revolution wird in Paris ausbrechen 
und wird nicht in diese Umfriedigung dringen. Vielleicht könnten wir draußen 
noch dem Lande und der Dynastie einen Dienst leisten; denn ich will hier 
ganz laut von der Dynastie sprechen. (Jal jal Sehr gutl) Indem wir uns 
trennen, weichen wir übrigens schon der Gewalt und nicht der Einschüchterung, 
und unsere Aufgabe sei, ein jeder durch seine persönlichen Mittel, die Ord- 
nung und die kaiserliche Dynastie zu vertheidigen. Der Antrag auf Per- 
manenzerklärung wird abgelehnt und die Sitzung geschlossen. 
Die Kaiserin flieht in aller Eile von Paris. 
Der Platz vor dem Stadthause ist von einer ungeheuern Volks- 
menge besetzt, welche die Republik verlangt und ausruft. Im Stadt- 
hause constituiren sich die Deputirten der Stadt Paris (ohne Thiers) 
unter dem Vorsitze des Generals Trochu als „provisorische Regie- 
rung der nationalen Vertheidigung“: Trochu, Favre, Jules Simon, 
Picard, Pelletan, Cremieux, Ferry, Glais-Bizoin, Gambetta, Roche- 
fort, Arago, Garnier-Pag&es. Die Umwälzung ist eine vollständig 
unblutige. Die Häupter der bisherigen kaiserlichen Regierung und 
Partei ergreifen die Flucht und gehen meist nach England. 
Der gesetzgeb. Körper tritt spät am Abend nochmals zusammen. 
Es wird der Versuch einer Verständigung zwischen ihm und der 
neuen auf dem Stadthause eingesetzten Negierung gemacht, um die 
Rechtscontinuität zu wahren. Die neue Regierung geht jedoch auf 
den Vorschlag nicht ein.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.