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Rußland.
haben. Diese Thatsachen haben sich vollzogen mit Einwilligung der Pforte,
mit Zustimmung der Großmächte, oder wenigstens ohne daß diese für noth-
wendig erachtet hätten, ihrer abweichenden Meinung Achtung zu verschaffen.
Der Vertreter Rußlands war der Einzige, welcher seine Stimme erhob, um
die Cabinette darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich-durch diese Duld-
samkeit in Widerspruch mit den klaren Bestimmungen des Vertrages setzten.
Gewiß, wenn diese eine der christlichen Nationalitäten des Orients gewährten
Concessionen aus einem allgemeinen Einverständnisse zwischen den Cabinetten
und der Pforte in Gemäßheit eines auf sämmtliche christliche Bevölkerungen
der Türkei anwendbaren Principes hervorgegangen wären, das kaiserl. Cabinet
hätte dem nur seinen Beifall zollen können. Sie waren jedoch exclusiver Art.
Das kaiserliche Cabinet mußte also betroffen sein, zu sehen, daß kaum einige
Jahre nach seinem Abschlusse der Vertrag vom 18./30. März 1856 Angesichts
der zu Paris in Conferenz versammelten und in ihrer Gesammtheit die hohe
Collectiv-Autorität, auf welcher der Friede des Orients ruhte, darstellenden
Großmächte ungestraft in einer seiner wesentlichsten Bestimmungen übertreten
werden konnte. Diese Verletzung war nicht die einzige. Zu wiederholtenmalen
und unter verschiedenen Vorwänden ist die Einfahrt in die Meerengen fremden
Kriegsschiffen und jene in das schwarze Meer ganzen Geschwadern geböffnet
worden, deren Anwesenheit eine Verletzung des diesen Gewässern beigemessenen
Charakters unbedingter Neutralität bildete. In dem Maße, als solchergestalt
die von dem Vertrage dargebotenen Unterpfänder und namentlich die Bürg-
schaften einer wirksamen Neutralität des schwarzen Meeres an Werth verloren,
vermehrte die Einführung der zur Zeit der Abschließung des Vertrages von
1856 unbekannten und nicht vorhergesehenen Panzerschiffe für Rußland die
Gefahren eines etwaigen Krieges, indem dadurch die ohnehin schon offenkundige
Ungleichheit der betreffenden Seestreitkräfte in sehr bedeutenden Verhältnissen
gesteigert wurde. Bei dieser Lage der Dinge mußte sich Se. Maj. der Kaiser
die Frage vorlegen, welches die Rechte und welches die Pflichten sind, die für
Rußland aus diesen Modificationen der allgemeinen Lage und aus diesen Ab-
weichungen von den Verpflichtungen sich ergeben, denen es unausgesetzt gewis-
senhaft treu geblieben ist, wiewohl sie im Geiste des Mißtrauens gegen Ruß-
land abgefaßt worden waren. Nach einer reiflichen Prüfung dieser Frage ge-
langte Se. Majestät zu folgenden Schlußfolgerungen, welche Sie angewiesen
werden, zur Kenntniß der Regierung, bei welcher Sie beglaubigt sind, zu
bringen. Unser erlauchter Herr vermag de jure nicht zuzulassen, daß Ver-
träge, die in mehreren ihrer wesentlichen und allgemeinen Klauseln überschritten
worden sind, in denjenigen Klauseln, welche die directen Interessen seines Reiches
berühren, verbindlich bleiben sollen. Se. Majestät kann de facto nicht zugeben,
daß die Sicherheit Rußlands von einer Fiction abhänge, die der Probe der
Zeit nicht widerstanden hat, und daß diese Sicherheit durch die Achtung rus-
fischerseits derjenigen Verpflichtungen gefährdet werde, die in ihrer Integrität
nicht beachtet worden sind. Im Vertrauen auf das Billigkeitsgefühl der Mächte,
welche den Vertrag von 1856 unterzeichnet haben, sowie auf das Bewußtsein,
das diese Mächte von ihrer eigenen Würde haben, befiehlt Ihnen der Kaiser,
zu erklären, „daß Se. kais. Moajestät an die Verpflichtungen des Vertrages
vom 18.130. März 1856, insoweit dieselben seine Souveränetätsrechte im
schwarzen Meere einschränken, sich nicht länger mehr gebunden erachten kann;
daß Se. kaiserl. Majestät sich berechtigt und verpflichtet glaubt, Sr. Majestät
dem Sultan die Special= und Zusatz-Convention zu dem besagten Vertrage
zu kündigen, welch' letztere die Zahl und die Größe der Kriegsschiffe, welche
die beiden Ufermächte im schwarzen Meere zu besitzen sich vorbehalten, feststellt;
daß Allerhöchstdieselbe den Mächten, welche den allgemeinen Vertrag, dessen
integrirenden Bestandtheil diese Convention bildet, unterzeichnet und gewähr-
leistet haben, davon in loyaler Weise Kenntniß gibt; daß Allerhöchstdieselbe
in dieser Beziehung Sr. Majestät dem Sultan den Vollgenuß seiner Rechte