Full text: Europäischer Geschichtskalender. Elfter Jahrgang. 1870. (11)

Das vaticanische Concil. 505 
Nachdem von den zur Debatte angemeldeten über 100 
Rednern etwas mehr als die Hälfte gesprochen, ward am 
3: Juni der Generaldiscussion durch einen Gewaltstreich ein 
Ende gemacht und die Opposition auf ihre letzte entscheidende Probe 
gestellt. Sie ist, wie nach ihrer bisherigen Haltung zu erwarten war, 
nicht bestanden worden. 
Aufhalten, hindern konnte sie Nichts mehr; das war von Anfang 
an unmöglich gewesen und war es jetzt noch mehr als früher; aber Eines 
konnte sie noch immer, ihre Ehre als Partei wiederherstellen vor dem Ge- 
wissen der katholischen Welt, und in diesem Augenblick mußte sie es, sonst 
wurde sie mitschuldig an dem, was sie bekämpft. Sie mußte austreten 
aus einer Versammlung, deren Mehrheit ihr eben mit Gewalt das Wort 
entzogen: eine solche That hätte nicht bloß ihr das verlorene Ansehen zu- 
rückgegeben, sie hätte dem Dogma selbst cinc empfindliche Wunde beige- 
bracht, die päpstliche Unfehlbarkeit wäre dann nicht „unter Zustimmung 
eines Scumenischen Concils“, sondern als ein brutaler Gewaltstreich mit 
Hilfe einer Numpfversammlung verkündet worden. 
Statt dessen beschloß die große Versammlung der Opposition, welche 
am 4. Juli bei Cardinal Rauscher zusammentrat, sich mit einem Protest 
zu begnügen, der nur ein starkes Wort enthielt: „Wir verwahren uns 
gegen die Vergewaltigung unseres Rechts“, und selbst dieser Satz ward 
nachher mit einer viel zahmeren Wendung vertauscht. Und nicht cinmal 
das ward erreicht, daß die Opposition ihrem Proteste durch beharrliches 
Schweigen in der nun doch inhaltlosen Debatte wenigstens einigen Nach- 
druck gab. Man debattirte fort, als ob Nichts vorgefallen wäre, und 
unterwarf sich so zum Voraus jeder Wiederholung der Gewaltthat vom 
3. Juni. 
Die Dinge nahmen von da ab einen beschleunigten Verlauf: noch 
manche kräftige Nede ward für und gegen gehalten, unter den letzteren eine 
von Cardinal Guidi, die großes Aufsehen machte und den Papst zu dem 
Ausruf veranlaßte: „die Tradition bin ich“. Die Ungeduld der Mehrheit 
wuchs, in demselben Maß die bange Niedergeschlagenheit der Gegner, die 
jetzt auch durch die glühende fieberschwangere Sommerhitze einer unerträg- 
lichen Folter physischer Leiden unterworfen wurden. Eine auf diese That- 
sache begründete Bittschrift meist bejahrter Väter um Vertagung bes Con- 
cils auf günstigere Jahreszeit ward mit offenem Hohn erwidert. Veduillot 
im I/Univers meinte: „Wenn die Unfehlbarkeit nur in der Sonne reifen
	        
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