542 Nebersicht der Ereignisse des Jahres 1870.
wieder fallen und erst als das Kaiserthum an der Erde lag, fand es den
Muth, aus Angst vor den Rothen, nach Nom zu greifen, nicht ohne daß
man vorher den erzürnten Papst in einem würdelosen Schreiben um Ablaß
angebettelt hätte, vergleichbar jenen frommen Stegreifrittern, die, wenn sie
einen Ablaßkrämer plündern wollten, sich vorher die Vergebung einer be-
liebigen künftigen Sünde bescheinigen ließen. „Ihr seid weiß übertünchte
Gräber", soll Pius IX. dem Grafen Ponza di San Martino geantwortet
haben, als dieser ihm den königlichen Brief vom 8. September übergab,
der mitiden Worten anhebt: „Heiligster Vater! Mit der Liebe eines Sohnes,
mit dem Glauben eines Katholiken, mit der Loyalität eines Königs“ u. s. w.
Das harte Wort des Papstes werden wir nicht anwenden auf die noth-
wendige Einziehung des verfaulten Kirchenstaates, aber von dem Charakter
der gesammten Politik, die sich also zu einem der größten Ereignisse der
Weltgeschichte stellte und dann mit schlotternden Knicen sich in's Unver-
meidliche fügte, darf es wohl wiederholt werden. Am 20. September
zogen die Bersaglieri des Generals Cadorna nach fünfstündiger Kanonade
in die ewige Stadt ein und der Jubel des Volkes begrüßte die Befreier.
Im leoninischen Stadttheil aber, dem Wohnort des Papstes, den die Ita-
liener vertragsmäßig nicht besetzen durften, war die Stimmung der Bevöl=
kerung der Art, daß der hl. Vater selber den General Cadorna um eine
Leibwache angehen mußte. Auf Grund des Plebiscits vom 2. Ockober
ergriff die Regierung zu Florenz, unter den lebhaftesten Protesten der Curie,
vom Patrimonium Petri formellen Besitz. Am 20. October entließ der
Papst den Rumpf seines Concils, und während das Volk geräuschvolle
Kundgebungen gegen die Jesuiten machte, deren Colleg denn auch geschlossen
wurde, begann der weltliche Umbau des Kirchenstaats. Die im einem Rund-
schreiben vom 18. October entwickelten Grundsätze für die Auseinander-=
setzung mit dem Papste, der für den Verlust seiner weltlichen Herrschaft
die ausgiebigsten Bürgschaften seiner geistlichen Souveränetät erhalten sollte,
hatten allgemeine Zustimmung im Lande erfahren; die Auflösung der
Kammer, die Ausschreibung neuer Wahlen sollten dem Ministerium auf
dem betretenen Wege die kraftvolle Unterstützung des Landes zuführen.
Der Bannstrahl, den der Papst zum zweiten Mal gegen den Kirchenräuber
Bictor Emanuel schleuderte, ward im Volke noch gleichgiltiger aufgenom-
men, als der von 1860. Der günstige Ausfall der Wahlen gab dem
Ministerium den Muth, in der Thronrede vom 8. December endlich eine
gerade, entschlossene Sprache zu führen und der bisherigen Politik schwäch-