Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

102 Pas deulsche Reich und seine einzelnen Slieder. (April 16.) 
Vorlage zu machen. Herr v. Gerlach, der sich unter den Gegnern der Vor- 
lage besindet, hat 1849 in einem Ausschußbericht gesagt: „Sellen werden 
wohl in wenigen Zeilen zweier kurzer Artikel so solgenschoere, Grundsätze 
anerkannt, wie es durch die Artikel 11 und 12 — das sind die jeyigen Art. 
12 und 15 — der Vorfassungsurkunde geschehen ist. Zusicherungen und Zu- 
geständnisse, wie sie in diesen Artikeln gegeben sind, gehören zu den Ereig- 
nissen, welche einmal geschrhen, kaum nädoohneig gemacht werden können.“ 
Herr v. Gerlach brantragte jedoch damals, an Stelle jener Artikel zu setzen: 
„Das Verhällniß der christlichen Kirchen und der übrigen Neligions-Gesell- 
schaften im Staate zu ordnen, bleibt besonderen Gesetzen vorbehalten.“ Ich 
wundere mich deßhalb, daß Herr v. Gerlach zu den Gegnern der Vorlage 
gehört. Gegenüber dem Abg. Brüel, welcher die Besorgniß aussprach, es 
könnte nach Streichung der Artikel 15, 16 und 18 der evangelischen Kirche 
ihre Selbstständigkeit genommen werden, bemerke ich, daß die Nothwendigkeit 
des Zusammenwirkens dreier Faktoren bei der Gesetzgebung seiner Sorge 
gegenüber doch genügende (garantie bietet. Eine brunbfälich- Regelung ver- 
langt aber, die betreffenden Artikel nicht bloß, so weit sie die katholische 
Kirche angehen, sondern für alle Religions-Gesellschaften zu streichen. Mit 
Unrecht hat deßhalb der Abg. Brüel der Regierung den Vorwurf gemacht, 
sie beleidige die evangelische Kirche. Uebrigens haben die Artikel 15, 16 und 
18 gerade der evangelischen Kirche bisher kaum etwas genützt. Dem Abge- 
ordneten Richler kann ich die Versicherung geben, daß bei der Gesetgebung, 
welche bezüglich der evangelischen Kirche in Aussicht steht, in der That auf 
dem bisher eingeschlagenen allfeitig gebilligten Wege weitergegangen werden wird. 
Dem Abg. Brüel aber bemerke ich noch, daß es der Regierung kein beson- 
deres Vergnügen macht, in den kirchlichen Dingen mehr zu herrschen und 
mehr zu befehlen, als sie um des Slaates willen muß. Was das Amen- 
dement betrifft, den zweiten Saß des Artikels zU Treichen, so möchle ich Fol- 
gendes betouen. Der Sinn dieses Artikels ist der, daß die Staatsregirung. 
ein gewisses politisches Gewicht darauf legen il*“* müssen glaubte, daß klar 
und scharf die Bedeutung der Gesetzgebung dem Gegner gegenüber zum Aus- 
druck gebracht wird; sie hat aber sonst einen anderen Gedanken mit der Be- 
deutung dieses Artikels nicht verbunden. Die Hauptsache bleibt immer die, 
daß es klar und deutlich ist, welcher Standpunkt von der Regierung gegen- 
über den Prätensionen der Gegenpartei eingenommen wird, und ich kann 
mich damit trösten, daß dieß auf das Bestimmteste durch die Streichung der 
Artikel allein ausgesprochen wird. Und wenn, wie die Inlerpretationen 
dieses zweiten Satzes durch die Herren Reichensperger und Brüel beweisen, 
Zweifel über den Begriff der Rechtsordnung bestehen und Zweidentigkeiten, 
wenigstens in der Auffassung Anderer, über den Sinn dieses Satzes hervor- 
treten, so hat der Abgeordnete Brüel gar nicht so Unrecht, wenn er sa 
es taugt dieser Sat nicht. Ich glaube unter diesen Umständen, daß 
Staatsregierung der Streichung dieses Satzes einen Widerspruch nicht ente 
gegensehen wird. Ministerpräsident Fürst Bismark: Die königliche 
Staatsregierung ist nur ungern darau gegangen. Ihnen eine Aenderung der 
Verfassung vorzuschlagen; denn auch sie theilt mit Ihnen die Ansicht, daß 
das Staalsgrundgesetz sich einer größeren Stabilität erfreuen sollte, als die 
Gesammtheit der übrigen Gesetze; sie hat sich aber auch sagen müssen, daß 
dasselbe unabänderlich nicht sein soll, denn in der Verfassung selbst sind die 
Formen einer Aenderung derselben vorgesehen. Und je wichtiger und ent- 
scheidender ein Arlikel derselben für unsere Gesekgebung und für die Gestal- 
tung unseres Volks= und Staatslebens ist, um so nothwendiger ist es, da, 
wo die Bedingungen, welche ihm als Entstehungsrecht und Grundlage dienen, 
sich ändern, auch eine Modificalion in der Verfassung eintrelen zu lassen,
	        
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