Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

538 Uebersicht der politischen Entwichriung des Jahres 1875. 
überall in Europa die Oberhand gewonnen. Selbst Spanien, so 
sehr es auch in vielen Dingen zurückgeblieben ist, weigerte sich doch 
entschieben, dem Verlangen der römischen Curie zu entsprechen, die 
seit der Vertreibung der Königin Isabella bestehende Glaubensfreiheit 
abzuschaffen und dafür die römisch-katholische Glaubenseinheit wieder 
einzuführen. Und zu Anfang des Jahres 1876 gelang es der Armee 
des jungen Königs Alfons auch, die carlistische Erhebung in den 
Nordprovinzen zu unterdrücken und den Prätendenten selbst zum 
Uebertritt auf französischen Boden zu zwingen. In Italien ver- 
schärfte sich der Gegensatz des Staates zu den Prätensionen der 
Hierarchie wieder, die Regierung begann, die Gesetze auch gegen die 
letztere fester als bisher zu handhaben und so lange der Vatican 
nicht rund und nett, wovon er doch noch sehr weit entfernt zu sein 
scheint, auf die Wiedergewinnung seiner früheren weltlichen Herr- 
schaft verzichtet, ist an eine Aussöhnung desselben mit dem Staate 
nicht zu denken. Oesterreich seinerseits wurde in der zweiten Hälfte 
des Jahres in steigendem Maße von den Zuständen in den benach- 
barten türkischen Provinzen in Anspruch genommen und sieht sich 
mehr als je veranlaßt, den russischen Tendenzen gegenüber sich fest 
an Deutschland anzuschließen, zumal es nicht verkennen kann, daß 
jeder Versuch, die ultramontanen Interessen auch nur momentan zu 
den seinigen zu machen, geradezu seine Existenz auf's Spiel setzen 
würde. Deutschland aber hat den Kampf mit Rom mit einer 
Energie und zugleich mit einer so klaren Selbstbeschränkung aufge- 
nommen, daß ein Zurückweichen als geradezu unmöglich erscheint, 
ohne den gauzen feit 1866 und 1870 geschaffenen neuen Zustand 
der Dinge in seinen Grundlagen in's Wanken zu bringen. In der 
zweiten Hälfte des Jahres 1875 setzte der Ultramontanismus alle 
seine Kräfte daran, in Bayern einen Umschwung der Dinge zu 
Slande zu bringen, sich in diesem nach Preußen mächtigsten deut- 
schen Staate neuerdings des Ruders zu bemächtigen und dann von 
da aus einen trennenden Keil in das immer fester werdende Gefüge 
des deutschen Reiches hineinzutreiben. Allein auch diese Hoffnung 
sollte zu Wasser werden: der Sieg der Ultramontanen bei den Neu- 
wahlen zur bayerischen zweiten Kammer war ein so geringfügiger, 
daß sich damit nur wenig anfangen ließ, und brach sich im ersten 
wuchtigen Anlauf an dem entschiedenen Willen des Königs, der im 
rechten Moment immer das Rechte zu treffen scheint. Trotzdem steht 
die ultramontane Parkei im Reich sowohl als in den Einzelstaaten
	        
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