Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

Uebersichl der pelitischen Entwichelung des Jahres 1875. 539 
äußerlich noch immer ungebrochen da. Allein ob dieß auch inner- 
lich der Fall sei, ist eine andere Frage. Der härteste Schlag jedoch 
traf sie in Frankreich. Es schien wohl in den letzten Jahren, als 
ob der Ultramontavismus mit seinen Wallfahrten und anderen De- 
monstrationen aller Art das Land überwuchert habe, aber es schien 
doch nur so, weil die Regierung unter Thiers seinen Agitationen 
nicht energisch entgegen zu treten gewagt, nachher aber unter Mac 
Mahon, Broglie und zumal Buffet dieselben vielmehr in jeder Weise 
begünstigt hatte. Indeß wenn auch zurückgedrängt, war der alte 
französische Geist doch nicht eingeschlafen und noch weniger schon 
ausgerottet. Kaum war die Nationalversammlung von 1871 endlich 
in den letzten Tagen des Jahres 1875 auseinander gegangen, so 
zeigten schon die Neuwahlen zur Deputirtenkammer und zum Senat, 
daß die Macht der Hierarchie und des Ultramontanismus eine viel 
geringere sei, als es bisher geschienen hatte: eigentliche, ausgesprochene 
Ultramontane gelangten nur in geradezu verschwindender Zahl in 
beide große Staatskörper. Und kaum hatte sich das erste wirklich 
liberale und republikanische Ministerium Ricard gebildet, so beschloß 
es auch schon und fast vor allem Andern, den Kammern durch den 
Unterrichtsminister Waddington eine Vorlage zu machen, durch welche 
dem verhängnißvollen Gesetz über die sog. Freiheit des Universitäts- 
unterrichts wenigstens die clericale Spitze abgebrochen werden sollte 
und zugleich dem Lande angekündigt wurde, daß die Regierung ent- 
schlossen sei, dem Laien- oder Staatsunterricht von der Volksschule 
an bis zu den Universitäten ganz anders als bisher unter die Arme 
zu greifen und daß dafür große Summen erforderlich wären und 
auch vom Lande gefordert werden würden. Bis jetzt ist diese Vor- 
lage in den Kammern noch nicht zur Entscheidung gekommen. An 
ihrer schließlichen Annahme ist indeß kaum zu zweifeln und ebenso 
wenig, daß Regierung und Kammern sich die Hände reichen werden, 
um die in den letzten Jahren üppig aufgeschossenen hierarchischen 
Anmaßungen und clericalen Agitationen energisch einzudämmen. Eine 
Art Culturkampf, d. h. ein Kampf des Staates gegen die Ueber- 
griffe der Kirche steht auch für Frankreich in ziemlich sicherer Aus- 
sicht. In welcher Art derselbe sich entspinnen und geführt werden 
wird, steht dahin; in der Weise Deutschlands wird es allerdings 
kaum der Fall sein. Aber Zweierlei steht jetzt schon fest. Die Hoff- 
nung Roms, aus Frankreich mit der Zeit den Knoten= und Angel- 
punkt einer römisch-katholischen Liga gegen den modernen Staat
	        
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