Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

ebersicht der pelitischen Enlwictlung des Jahres 1875. 568 
gauze Thätigkeit schien eine absolut negative zu sein und sich darauf 
zu beschränken, die Dauer der Nationalversammlung in's Unendliche 
zu verlängern, als ob sie irgend einen Zufall erwarteten, der ihnen 
das große Loos der Zukunft in den Schoß werfen würde. Ein solcher 
Zustand war eines großen Landes ganz und gar unwürdig und ein- 
zelne edlere Naturen der Majorität begannen doch zu fühlen, daß 
darin gewissermaßen ein Verrath gegen dasselbe liege. 
Bis zu Anfang des Jahres 1875 hatte die sog. 30er-Com- 
mission endlich nach fast zweijährigen Berathungen einen Gesetzes- 
entwurf betr. den Uebergang der Gewalten und einen andern betr. 
die Errichtung eines Senates ausgearbeitet und konnte die National- 
versammlung daran gehen, die Verfassungsfrage wenigstens in einigen 
Beziehungen in Angriff zu nehmen. Beide Entwürfe waren durchaus 
in reactionärem Sinne ausgedacht, selbst das Wort Republik aus 
demselben sorgfältig ausgemerzt. Der Marschall Mac Mahon und 
seine Regierung waren damit einverstanden, da beide Entwürfe seine 
Gewalt wenigstens einigermaßen näher definirt hätten. Im Uebrigen 
hatten sie alles in demselben Provisorium gelassen wie bisher. Die 
vereinigte Rechte hätte sie daher unbedenklich annehmen können, so 
wie sie waren; für die vereinigte Linke dagegen waren sie absolut 
unannehmbar. Da löste sich am 30. Januar 1875 eine ganz kleine 
Fraction des rechten Centrums unter der Führung des Professors 
Wallon von der Rechten ab und bot der vereinigten Linken die 
Hand so weit, daß in den Gesetzesentwurf betr. den Uebergang der 
Gewalten das Wort Republik wieder hineingebracht wurde, indem 
mit 35 gegen 352 Stimmen ein Antrag Wallon's angenommen 
wurde, den Ausdruck „der Marschall-Präsident“ wieder mit dem 
bisherigen „der Präsident der Republik“ zu vertauschen. Der Sieg 
der vereinigten Linken war in Wahrheit sowohl begzüglich der Sache 
selbst als durch die Majorität von nur einer einzigen Stimme ein 
geradezu winziger. Dennoch betrachtete ihn sofort alle Welt als ein 
großes und möglicher Weise folgenschweres Ereigniß;: der Bann, in 
dem die antirepublikanische Majorität die Nationalversammlung und 
das Land gehalten hatte, war gebrochen, wenn die kleine Fraction, 
die das Zünglein der Waage in der Hand hielt und es in diesem 
einzelnen Falle nach der linken Seite hin gewendet hatte, fest blieb. 
Und sie blieb fest. Wallon stellte in den nächsten Tagen darauf 
noch eine Reihe weiterer Amendements, die Linke ging darauf ein, 
es bildete sich eine neue, wenn auch vorerst noch sehr kleine Majo- 
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