Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

ebersichl der polilisczen Entwickelung des Jahres 1875. 571 
Wenn die Rüstung der Nation zeitweise allzu schwer werden will, so 
muß fie erwägen, daß sie immer noch leichter ist, als die Lasten, welche 
der kleinste Krieg auf ihre Schultern legen würde, und wie die Dinge 
liegen, ist an einen kleinen Krieg zur Zeit nicht einmal zu denken, 
sondern nur an einen solchen, der alsbald gang Europa in seine 
Flammen hereinziehen und alle Errungenschaften Deutschlands, mate- 
rielle wie ideelle, in Frage stellen würde. Die Abrüstungstendengen, 
für welche in neuester Zeit namentlich von Oesterreich her so lebhaft 
agitirt wird, haben daher, so wohlgemeint sie auch sind, nicht die 
mindeste Aussicht auf Verwirklichung. Deutschland kann nicht ab- 
rüsten, Frankreich will es nicht, Rußland hat dazu keinerlei Ver- 
anlassung, England will seinerseits, so schwach auch seine Landmacht 
ist, um jeden Preis die erste Seemacht der Welt bleiben und selbst 
Italien kann an seinem Militäraufwand nicht viel ersparen, wenn 
es nicht die Fugen seines jungen Staatswesens in bedenllicher Weise 
lockern will. 
Deutschland geht übrigens in diesem sog. Militarismus keines- griegs- 
wegs voran und wenn es seine Kriegsmacht allerdings sietig eher ##ar## 
vermehrt als vermindert, so wird es dazu von Frankreich gezwungen. 
Mit fast fieberhafter Hast ist dieses seit vier Jahren bemüht, nicht 
nur sein Heer zu reorganifiren, sondern sich wenigstens an Zahl auch 
wieder zur ersten Militärmacht Europas zu machen. Selbst in den 
heftigsten Verfassungswirren hat die französische Nationalversamm- 
lung dieses Bestreben keinen Augenblick aus den Augen gelassen und, 
fast über alles andere uneinig, waren darüber alle Parteien jederzeit 
nur Einer Meinung. Noch im J.A 1875 beschloß ßie mitten unter den 
Kämpfen um die neue Verfassung durch ein neues Cadresgesetz, das 
Heer für den Kriegsfall neuerdings um mehr als 100,000 Mann 
zu vermehren. Für Deutschland konnte das unmöglich gleichgül- 
tig sein und es ist daher nicht unwahrscheinlich, daß der deutsche 
Reichskanzler wiederum wie schon früher ernste Warnungen nach 
Paris gelangen ließ und seine Besorgnisse und sein Mißtrauen wie 
seinen festen Entschluß, daß Deutschland sich von Frankreich jeden- 
falls nicht werde überraschen lassen, auch anderen Mächten zur 
Kenntniß brachte. Da nun gleichzeitig eine Anzahl offiziöfer deutscher 
Blätter die Unsicherheit der europäischen Allianzverhältnisse ins Licht 
zu stellen bemüht war, so entstand dadurch in der ersten Hälfte des 
J. 1875 während mehrerer Monate eine allgemeine Beunruhigung 
in Deutschland, als ob der Friede mit Frankreich ernsthaft in Frage
	        
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