Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

572 Uebersicht der polilischen Enlwickelung des Jahres 1875. 
gestellt wäre, was hinwieder Frankreich dazu benützte, Deutschland 
zu verdächtigen. In Wahrheit lagen dem Lärm keinerlei wirklich 
feindselige oder gar kriegerische Absichten weder von der einen noch 
von der andern Seite zu Grunde und es gelang daher auch zu An- 
fange Mai der russischen Vermittlung leicht, ihn zum Schweigen 
zu bringen. Die Art freilich, wie dieß der russische Staatskanzler 
der Welt ankündigte, war eine etwas sonderbare und wenig takt- 
volle und ganz geeignet, in Berlin wenigstens vorübergehend mit 
Recht einige Verstimmung zu erwecken. Wohl nicht ohne Grund 
brachte man es mit diesen Vorgängen in Verbindung, als nicht 
lange nachher und gleich zu Anfang des Wiederausbruchs der orien- 
talischen Frage ein offiziöses Berliner Blatt eine Note veröffentlichte, 
die man der Feder des deutschen Reichskanzlers selbst zuschrieb und 
welche die runde und neite Erklärung enthielt, daß das Verhältniß 
zwischen Deutschland und Rußland auf dem gegenseitigen Interesse 
beider beruhe und daß Deutschland darum in keiner Weise gemeint 
und auch nicht in der Lage sei, sich von Rußland ins Schlepptau 
nehmen zu lassen. 
Spanien. Während in Frankreich die Republik neu aufgerichtet wurde, 
verschwand sie dagegen mit dem J. 1875 in Spanien wieder vom 
Schauplatze. Als Serrano nach dem Sturze Castelars die revo- 
lutionäre Partei durch einen Staatsstreich daran verhinderte, neuer- 
dings die Zügel der Regierung zu ergreifen, sich selbst des Staats- 
ruders bemächtigte und vorerst ohne Cortes als Dictator regierte, 
glaubte die Nation sich der Hoffnung hingeben zu dürfen, daß er 
als Soldat wenigstens im Stande sein werde, den Aufstand des Don 
Carlos in den baskischen Provinzen zu überwältigen. Allein er 
zeigte sich dazu völlig unfähig. Don Carlos hielt sich nicht nur in 
jenen Provinzen und beherrschte sie bis auf einige feste Plätze völlig, 
sondern er war sogar im Stande, durch seine Anhänger unter dem 
Befehl seines Bruders Don Alfons weite Streifzüge bis tief in den 
Süden und bis nahe vor die Thore Madrids zu unternehmen. Da 
machte in den letzten Tagen des J.u1874 ein allgemeines Pronnncia- 
mento der Armee dem schwachen Regimente Serrano's ein Ende, 
indem es den in England weilenden Sohn der vertriebenen Königin 
Iffabella auf den Thron berief. Die Nation war damit einver- 
standen. Der junge Alfons traf zu Anfange des J. 1875 in Madrid 
ein, ließ sich als König Alfons XII. huldigen und ergriff die Zügel 
der Regierung, indem er ein aus ehemaligen Unionisten (gemäßigt
	        
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