Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

Italien= 
576 Kebersicht der pelitischen Entwichelung des Jahres 1875. 
Italien ist doch in einer ganz andern Lage als Spanien. 
Auch für Italien war das J. 1875 in mehr als Einer Beziehung 
ein besonders bedeutfames. Erst mit dem Ablauf dieses Jahres ge- 
lang es ihm, das Deficit in seinem Budget, das es seit dem J. 1860 
wie eine schwere Kette nachgeschleppt hatte, zu beseitigen. Wenn 
auch nur allmählig und nicht ohne Schwierigkeiten und theilweise 
Rückfälle, so wachsen doch die einzelnen Bestandtheile des jungen 
Königreichs sichtlich in einander und füllt dasselbe seinen Platz als 
sechste Großmacht Europas, als welche es nachgerade allseitig an- 
l erkannt ist, mehr und mehr in ehrenvoller Weise aus. Mit Oester- 
reich steht es bereits auf dem besten Fuße, wie die Zusammenkunft 
des Kaisers Franz Joseph mit dem Könige Victor Emanuel im 
Frühjahr 1875 in Venedig unzweifelhaft bewiesen hat. Ihm folgte 
im Herbst der Besuch des deutschen Kaisers in Mailand, der den 
ganzen Unterschied zwischen dem alten und dem neuen deutschen 
Reiche darzulegen geeignet war. Deutschland hegt gegen Italien 
nur freundliche und wohlwollende Gesinnungen, und die Aufnahme, 
die dem mächtigen Herrscher Deutschlands in der alten Hauptstadt 
der Lombarden zu Theil ward, zeigte, daß Italien diese Gesinnungen 
zu würdigen weiß und erwiedert. In mehr als einer Beziehung ist 
Italien darauf angewiesen, sich fest an Deutschland anzulehnen, ent- 
schieden mehr als an das stammverwandte Frankreich. Noch unter 
der Präsidentschaft des Herrn Thiers war das Verhältniß zwischen 
beiden sogar ein überaus gespanntes, weil Hr. Thiers seit jeher im 
Interesse Frankreichs ein Gegner der italienischen Einheit war und 
blieb, wenn er auch nicht umhin konnte, die vollendete Thatsache 
anzuerkennen; und die clericale Partei in Frankreich konnte sich da- 
mals noch der wahnsinnigen Hoffnung hingeben, die italienische Ein- 
heit wieder zu zertrümmern, lediglich um dem Papst wieder Rom 
und den ehemaligen Kirchenstaat zurück zu geben, obgleich die Partei 
damals noch nicht die Macht hatte, die sie später zu erringen ge- 
wußt hat. Unter Mac Mahon und dem Herzog Decazes ist das 
Verhältniß zwischen beiden Regierungen trot der immer deutlicher 
zu Tage tretenden ultramontanen Tendenz aller französischen Mini- 
sterien seit Thiers ein viel besseres geworden und wird ein noch 
besseres werden, wenn die französische Republik sich, wie es den An- 
schein hat, veranlaßt sieht, den ultramontanen Umtrieben und den 
römisch-hierarchischen Anmaßungen einen Damm entgegen zu setzen 
und die Rechte des Staats gegenüber der Kirche schärfer als bisher
	        
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