Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

578 Lebersicht der polltischen Entwickelung des Jahres 1875. 
men ist. Ob sie sich daran wird erhalten können und welchen Ein- 
fluß der Vorgang auf die weitere Gestaltung der Parteien möglicher 
Weise gewinnen wird, steht vorerst dahin. Das politische Partei- 
wesen ist im italienischen Parlament noch ein sehr unbefriedigendes: 
auf der Linken wie auf der Rechten und im Centrum sehen wir 
mehr persönliche Cotereien als grundsätzliche politische Parteien, und 
diejenigen mögen Recht haben, welche eine Besserung erst dann er- 
warten, wenn die clericale Partei in einer ihrer wirklichen Stärke 
angemessenen Zahl in's Parlament eintreten und dadurch auch die 
Anderen zwingen würde, sich enger zusammenzuschließen und ihre 
Grundsätze schärfer als bisher zu formuliren. Bis jetzt ist die cle- 
ricale Partei im Parlament nur durch einige wenige Mitglieder ver- 
treten, die ohne allen Einfluß sind, während man annimmt, daß 
das Verhältniß eigentlich das von zwei zu drei Fünfteln sein sollte. 
Die dießfällige Entscheidung hängt lediglich von einem Wink der 
römischen Curie ab. Seit 1860 ihr Heil nur von großen europäi- 
schen Combinationen erwartend, hielt diese zeither für Italien an 
dem Grundsatz ne elettori ne eletti fest, d. h. daran, daß ihre An- 
hänger weder als Wähler an den politischen Wahlen Theil nehmen, 
noch sich wählen lassen dürften. Die Combinationen der Curie haben 
sich jedoch bis jetzt als ohnmächtige, ihre Hoffnungen als trügerische 
erwiesen. Allem Anschein nach wird dieß auch fernerhin, vielleicht 
sogar in verstärktem Maße, der Fall sein und dieselbe wird sich ge- 
nöthigt sehen, auf ihr lediglich ablehnendes und verneinendes Ver- 
halten gegenüber den gesammten neuen Zuständen Italiens zu ver- 
zichten. Im Jahre 1875 hat sie denn auch bereits auf ihr bishe- 
riges System bezüglich der Gemeindewahlen verzichtet, und da der 
Erfolg ein für sie befriedigender war, wird sie wohl über nicht lange 
sich entschließen, völlig in die politische Arena hinabzusteigen. Hier 
wird und muß sie das moderne Italien zum letzten entscheidenden 
Kampfe erwarten. 
Der Ausgang des Kampfes dürfte nicht zweifelhaft sein, wohl 
aber wird es gerade in Italien noch großer Anstrengungen bedürfen, 
um die Kirche endgültig in ihre Schranken zurückzuweisen, und muß 
man sich wohl auch auf allerlei Wechfelfälle gefaßt machen. In 
Schweit der benachbarten Schweiz dagegen scheint der Kampf im Wesentlichen 
entschieden zu sein. Die inneren Bergkantone mit Luzern, Freiburg 
und Wallis, die ehemaligen Sonderbundskantone also, bleiben römisch- 
katholisch; die ganze ebenere Schweiz dagegen von Genf bis zum
	        
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