Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

Uebersicht der pelilischen Enlwiceiung des Jahres 1875. 581 
und selbst in den beiden Rammern setzte die liberale Partei gegen 
Ende des Jahres eine Resolution durch, durch welche die ultramon- 
tanen Umtriebe unzweidenlig verläugnet wurden und mit der sich 
das Ministerium, gern oder ungern, einverstanden erklären mußle. 
Die clericale Hochfluth ist in Belgien offenbar im Rückgang be- 
grissen, aber so lange die Doctrinairs die Leitung der liberalen Partei 
in den Händen haben, ist es mehr als zweifelhaft, ob diese so bald 
wieder im Stande sein werde, die Oberhand zu gewinneu, und ob, 
selbst wenn es der Fall wäre, damit viel gewonnen sein würde. 
Und nicht viel anders ist es in Holland. Auch hier entbehrt diebolland. 
liberale Partei eines festen Zusammenhalis und vielfach auch fester 
Grundsätze sowohl gegenüber der augenblicklich am Ruder befind- 
lichen conservaliven Partei, als auch und noch mehr gegenüber den 
Ansprüchen und Eigenmächtigkeiten der katholischen Hierarchie und der 
katholischen Landestheile. Daneben spielt auch in Holland schon seit 
mehreren Jahren die Mililärfrage eine hervorragende Rolle und scheitert 
in den Generalstaaten ein Kriegeminister nach dem andern mit seinen 
Vorlagen betr. die Reorganisation der Armee und betr. die allge- 
meinen Anstalten zur Vertheidigung des Landes. Dabei ist es sehr 
klar, was die Generalstaaten nicht wollen, d. i. eine sehr erhebliche 
Erhöhung des Militärbudgets, nicht aber, was sie eigentlich wollen. 
Wird es schwierig sein, das Princip der allgemeinen Wehrpflicht in 
Belgien zur Geltung zu bringen, so ist dieß bezüglich Hollands noch 
viel mehr der Fall. Doch hat sich daselbst im Jahre 1875 ein 
ziemlich zahlreicher Verein gebildet, um für die Idee vorläufig we- 
nigstens Propaganda zu machen. 
Einigermaßen anders liegen die Dinge in Dänemark. Zwar Täne- 
waltet auch hier schon seit mehreren Jahren ein Streit zwischen der mart. 
Regierung und der Majorität des Folkethings über die Frage der 
Landesvertheidigung und Landesbefestigung. Aber in Wahrheit greift 
der Gegensatz viel tiefer. Im, Kampfe mit Deutschland um Schleswig- 
Holstein war in Dänemark die sog. national-liberale Partei empor- 
gekommen; der unglückliche Ausgang desselben brach aber ihre Kraft 
und ihr Ansehen, sie ist seitdem beständig zurückgegangen und sieht 
sich zur Zeit fast nur auf die Hauptstadt Kopenhagen beschränkt. 
Ihr gegenüber steht nunmehr die sogen. Bauernpartei, die indeß 
durchaus nicht bloß aus Bauern besteht, die von der beabsichtigten 
überaus kostspieligen Befestigung von Kopenhagen entschieden nichts 
wissen will und die entschiedene Majorität im Folkething besigzt.
	        
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